Die Kirche in Gottes Straßenbauprogramm
„Straßenarbeiter wollen Vertrag!“ So war auf Plakaten zu lesen, die streikende Arbeiter in Händen hielten. Diese handfeste Forderung will ich nicht verharmlosen, wenn ich uns Christen als Gottes Straßenarbeiter bezeichne und behaupte: „Wir Christen brauchen keinen Vertrag. Wir Straßenarbeiter stehen mit Gott im Bund.“
Kirchliche Arbeitsverhältnisse mit dem Bund Gottes zu vergleichen, ist sehr steil, zumal wir ja alle wissen: Auch bei uns in der Kirche ist nicht alles Gold, was glänzt. Wir reden so viel – vielleicht zu viel – von und über Gott, und bei all den frommen Formeln kommt auf, dass unser Innenleben manchmal hohl ist und leer. Das möchte ich nicht verschweigen, wenn ich Ihnen heute ganz offiziell meine Absicht ankündige, die neue Grundordnung des kirchlichen Dienstes für unser Bistum in Kraft zu setzen. So wird es zum 1. Januar 2023 ein neues Diözesangesetz geben, das vor allem auch den Dienstgeber in die Pflicht nimmt. Das ist ein grundlegender Perspektivwechsel: Statt Loyalitätspflichten des Beschäftigten gegenüber der Kirche werden mehr die Verpflichtungen des Dienstgebers gegenüber den Beschäftigten definiert. Katholische Einrichtungen sollen ihre Katholizität nicht daraus ziehen, dass die Mitarbeitenden kirchlichen Moralanforderungen auch im Privatleben genügen. Das ist verständlich: Denn Moral lässt sich nicht mit Rechtsmitteln durchsetzen. Doch es bleibt die Frage nach dem Profil der Kirche. Kirchliche Einrichtungen sind dann kirchlich, wenn ein besonderer Geist für die Verwirklichung der Ziele des Evangeliums herrscht. Wer an diesen Zielen mitwirken will, soll es auch können. Programmatisch heißt es im neuen Arbeitsrecht: „Vielfalt in kirchlichen Einrichtungen ist eine Bereicherung“, um die Mitwirkung von Menschen als kirchliche Mitarbeitende „unabhängig von ihren konkreten Aufgaben, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrem Alter, ihrer Behinderung, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung und ihrer Lebensform“ zu ermöglichen.
Diese Sätze wirken zunächst als Erleichterung und Entlastung. Sie nehmen Druck aus dem Kessel – ohne Zweifel. Doch zugleich sind sie Herausforderung und Verpflichtung: Wir alle werden an das große Wort erinnert, das uns als Dienstgeber und Dienstnehmer miteinander verbindet: Dienstgemeinschaft. Wir stehen gemeinsam im Dienst für Gott und Mensch. Sonst hat Kirche keinen Sinn, sonst können wir den Laden schließen, weil wir nur eine Firma sind.
Was Dienstgemeinschaft heute heißen könnte, fasse ich zusammen unter „Wege bauen und Wege ebnen“. Das ist das Thema der heutigen Lesung: „Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste. Baut in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott. Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und jeder Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hügelig ist, werde eben“ (Jes 40, 3f.).
Straßen bauen oder Wege ebnen in einem schwierigen Gelände, wo tiefe Täler trennen und hohe Berge im Weg stehen, wo es schwierig ist und mühsam, vorwärts zu kommen, wo die Gefahr groß ist, dass man sich verirrt, und wo man nie sicher ist, ob man das Ziel, zu dem man kommen möchte, je erreichen kann. Natürlich steht dem Propheten Jesaja zunächst die Landschaft Israels vor Augen. Und gleichzeitig weist die Bilderwelt, die Jesaja malt, über die reine Geographie hinaus. Schnell sind wir in der Landschaft unseres Miteinanders, wir schauen auf die Höhen und Tiefen unserer menschlichen Beziehungen, wir betrachten die Kurven, Höhepunkte und Talsohlen unserer Freundschaft zu Gott. Auch da gab und gibt es versperrte Wege, Umleitungen, Einbahnstraßen, Trampelpfade auf unwegsamem Gelände. Schwierig, in der Steppe sich einen Weg zu bahnen oder in der Wüste gar eine Straße zu bauen.
Die Landschaft der Propheten zeichnet ein Bild unseres Lebensweges, und die Lebenswelt, die hier entworfen wird, hat zu tun mit unserem Lebens- und Berufsweg. Inmitten unserer Steppen und Wüsten, unserer Berge und Täler, unserer Biegungen und Kurven wird eine adventliche Straße gebaut.
Wie schwierig, ja menschenunmöglich es manchmal ist, verschüttete Wege wieder frei zu räumen, das wissen wir alle. Deshalb ist es tröstlich, dass uns Gott nicht zuerst als Straßenarbeiter anstellt. Die Stimme, die ruft: „Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste“, richtet sich zunächst einmal nicht an den Menschen, sondern an Gottes Ratsversammlung. Gott ist es, der die Initiative ergreift. Gott ist der erste Straßenarbeiter, der sich selbst den Weg zu uns bahnt, ehe er uns in seinen Dienst nimmt. Bevor wir anfangen, Schaufel und Pickel in die Hand zu nehmen, um für ihn eine Straße zu bauen, hat er für uns schon einen Weg gebahnt zu sich. Gott ist der erste, der die trennenden Berge abträgt und die tiefen Gräben auffüllt. Der Weg, der im Advent geebnet wird, ist ein Pfad, der Gott zu uns Menschen führt. Das heißt: Die Richtung muss stimmen: von Gott zu uns Menschen. Trotzdem ist der Advent keine Einbahnstraße, sondern ein Verbindungsweg. Weil Gott sich den Weg zu uns Menschen neu gebahnt hat, weil er mit uns nicht nur einen Vertrag auf Zeit, sondern einen Bund fürs Leben geschlossen hat, gehören wir Christen zur Baukolonne des Neuen Weges. Oder anders gesagt: Gottes Straßenmeisterei ist Seine Kirche. Wir sind Gottes Straßenarbeiter, engagiert als Wegbereiter für den Herrn.
Wo sind Gottes Wege in unserer Zeit? Die glitzernden Geschäftsstraßen kann man wohl nicht ohne weiteres damit identifizieren. Gibt es so etwas wie ein „Straßenbauprogramm“, das Gott mit unserer Hilfe verwirklichen will?
Zeichnen sich Trassen des Geistes und des Herzens ab, die man als Straßen des Herrn bezeichnen könnte: Straßen, die nach Bethlehem führen und darüber hinaus in eine erlöstere Welt? Ich weiß, dass es Gottes Straßenbauprogramm gibt. So will ich für einige Transitrouten Gottes die Beleuchtung einschalten, damit wir uns besser auf ihnen bewegen können:
Die Straße zum Herzen
Seit der Verhaltensforscher Konrad Lorenz in seinen „Acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ darauf hinwies, füllen die Gedanken darüber ganze Bibliotheken: Es geht um die sterbenden menschlichen Beziehungen in einer verstädterten, überorganisierten, übertechnisierten, computergesteuerten Welt. In einem derartigen Klima schwinden Anteilnahme, Einfühlungsvermögen, Empathie, Hilfsbereitschaft und Zuwendung. Wie steht es um die Straßen zu den Herzen bei uns in der Kirche? Ich habe erfahren: Es gibt die Straße zum Herzen. Ich sehe sie in der Mentalität und in der Einstellung vieler, die in der Kirche und für das Evangelium arbeiten – übrigens nicht nur in der Pastoral, auch in der Verwaltung und in technischen Diensten. Vergelt’s Gott dafür! Ich bin überzeugt: Alle Straßen der Herzlichkeit sind Wege zum Kind in der Krippe.
Die Straße zum Ethos
Wenn wir die Debatten der letzten Zeit anschauen, drehen sie sich oft um das eine Thema: Geld und Macht. Wenn ich als Priester meinen Terminkalender durchblättere und anschaue, zu welchen Themen ich um Vorträge gebeten werde, dann stelle ich ein Kontrastprogramm fest, ob bei Ärzten oder Sozialpädagogen, bei Lehrern oder Anwälten, beim Landvolk oder bei Offizieren, bei Bäuerinnen oder bei Arbeitskreisen für die Eine Welt.
Bei allen kreist es fast immer um die eine Frage: Wo sind die tragenden Werte, die entscheidenden Ziele? Was sollen wir tun und wo sind die Grenzen, um das Menschliche zu wahren? Dürfen wir alles, was wir können? Alles zielt auf die Urfrage hin: Was ist wirklich gut?
Wir spüren, dass es nicht allein auf die Währung des Geldes ankommt, sondern mehr noch auf die Skala der Werte, die bei uns gelten. Die Straße in Richtung Ethos ist angebahnt. Gerade wir Christen sind eingeladen, fleißig mitzubauen. Ethos, Moral ist mehr als was in Büchern steht. Ethos ist vor allem Leben. Mühen wir uns um Glaubwürdigkeit, dann bahnen wir dem Herrn den Weg.
Die Straße zur Transzendenz
Das ist wohl die Straße, die Jesaja besonders am Herzen liegt: jene Bahn, auf der das Menschenherz in die Ewigkeit zieht. Wie steht es mit diesem Weg in unserer Zeit? Eines ist offenkundig: Immer wieder sind Machthaber mit ihren Ideologien auf den Paradeplätzen der Welt aufgefahren, um die Straße der Transzendenz platt zu machen und einzuebnen. Die Unternehmungen totalitärer Regime haben vielen gläubigen Menschen unsägliches Leid gebracht.
Aber das Ergebnis war kläglich: Aus Kellern und Kolchosen, aus Lagern und Gulags, aus Forschungszentren und Laboren ließ sich der Glaube niemals ganz verdrängen. Die Straßen zur Transzendenz haben die Paradeplätze und Aufmarschpläne der Gottlosigkeit durchquert und überdauert. Weder Politbüros noch Parteizentralen ist es gelungen, Gottes Straßenbauprojekte zu streichen. Man konnte sie verzögern, aufhalten kann man sie nicht. Wie hat schon der Schweizer Psychotherapeut Erich Fromm gesagt, als er seine Praxis beschrieb, die mitten in einem Zentrum von Business und Wellness sich befand: „Spätestens bei jedem dritten Gespräch bin ich mitten im religiösen Problem …“
Manchmal mag die Straße zur Transzendenz eine Unterflurtrasse sein, aber sie verschwindet nicht. In tausend Sehnsüchten des Herzens tritt sie immer wieder hervor, bis des Menschen Herz sein Ziel erreicht und Ruhe findet in Gott.
Es gibt nicht nur die girlandengeschmückten Altstadtgassen, die ihrem traulichen Schein eine fröhliche Weihnacht zuflüstern. Es gibt in unserer dunklen Welt auch die Straßen des Jesaja, auf denen die Menschen bis heute dem Stern von Bethlehem entgegenwandern. Der Stern von Bethlehem ist auch unser Ziel. Helfen wir Gott beim Straßenbau. Ebnen wir Wege und öffnen wir Pfade, damit viele den Stern finden und mit ihm das Kind.