Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2,41-52)
Wie an den letzten beiden Samstagen begleiten wir auch am Vorabend des 4. Advent die heilige Familie auf einem Weg. Von der jüdischen Tradition der Wallfahrt haben wir bereits bei den Eltern des Propheten Samuel gehört. Das Paschafest, das alljährlich zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gefeiert wird, bildet einen der religiösen Höhepunkte im Kalender.
Bis heute dient die Pessach-Festwoche im Judentum ebenso der Vergewisserung der eigenen Identität wie der Stärkung der Gastfreundschaft, aus Dankbarkeit für die Befreiung von Sklaverei und Unterdrückung. Juden in aller Welt feiern es mit ihrer Familie und vergegenwärtigen sich die Ereignisse, die das zweite Buch Mose, das Buch Exodus, schildert.
Die Eltern Jesu standen also fest in der Tradition ihrer Vorfahren und wir können uns denken, dass es für den Heranwachsenden mit einiger Aufregung verbunden war, diese mehrtägige Pilgerreise mitmachen zu dürfen. Stundenlanges gleichmäßiges Gehen vom kühlen Morgen über den heißen Mittag bis in die Abenddämmerung - da sind die Tage monoton und abwechslungsreich zugleich. Jesus, so stelle ich mir vor, war ein recht selbstständiges, wissbegieriges Kind, das nicht am Rockzipfel der Mutter hing, sondern sich immer wieder auch anderen aus der Pilgergruppe näher anschloss und sich stundenweise außerhalb des Blickfeldes der Eltern aufhielt. Der Tempel von Jerusalem muss in seiner Ausdehnung und Pracht für den Jugendlichen ebenso beeindruckend gewesen sein wie die Stadt selbst. Da gab es viel zu sehen und bestimmt fragte Jesus seine Eltern „ein Loch in den Bauch“. Mehr noch: Diesmal fasste er am letzten Tag, wohl kurz vor dem Aufbruch ins heimatliche Nazaret, den Entschluss, da zu bleiben!
Manch einer von uns wird sich in diesem zwölfjährigen Jungen wiedererkennen. Er ist in dem Alter, in dem Pubertierende ihre eigene Meinung konsequenter vertreten als vorher und in Abgrenzung zur Familie Selbstständigkeit und Unabhängigkeit ausprobieren wollen. All dies spielt auch hier eine Rolle. Die Bibelwissenschaft geht von einem "recht hohe(n) Alter" (Thomas Söding) dieser Erzählung aus, da Maria und Josef nur hier unter dem Begriff der "Eltern" zusammengefasst werden.
Erst am Abend, nach einer ganzen "Tagesstrecke" (Lk 2,44) bemerken die besorgten Eltern das Verschwinden ihres Kindes und entscheiden sich zur Rückkehr nach Jerusalem. Doch auch hier suchen sie drei unendlich lange Tage nach Jesus – vielleicht eine Anspielung auf das Buch Jona, in dem der gleichnamige Prophet auf seiner Flucht vor dem göttlichen Auftrag von einem "großen Fisch" verschluckt wurde und "drei Tage und drei Nächte" in dessen Bauch verbrachte, bis er sich dem Willen Gottes beugte (Jona 2,1). In diesen schmerzvollen Stunden, so die Botschaft, lernen Maria und Josef, dass Jesus, um es zugespitzt zu sagen, nicht oder eben nicht nur ihr Sohn (und schon gar nicht ihr Besitz) ist. Die judenchristliche Gemeinde, die diese Szene mündlich überlieferte, mag sich dabei auch an die Jugend des Moses erinnert haben, der bereits als Säugling aus dem Volk herausgenommen wurde, um es schließlich im Auftrag Gottes ins verheißene Land zu führen.
Vielleicht ist es Ihnen noch vor Augen: Für das Erinnerungsbildchen zu meiner Bischofsweihe hatte ich als Motiv den zwölfjährigen Jesus im Tempel, ein Tafelbild des italienischen Künstlers Duccio di Buoninsegna, gewählt und die vorliegende Lukasstelle war das Evangelium im Weihegottesdienst Denn für mich gehört dieses Ereignis zu den zentralen Schlüsselmomenten, in denen uns Christus etwas über seine eigene Person offenbart. Tatsächlich ist es ja, chronologisch betrachtet, das erste Wort, das von ihm überliefert ist – keine Aufforderung wie im Markusevangelium (Mk 1,15), sondern zwei Fragen, die im ersten Augenblick recht ungerührt, ja unduldsam klingen, aber verdeutlichen, Jesus ist sich seines Auftrages auf eine Weise bewusstgeworden, dass er nicht einmal mehr auf seine Eltern Rücksicht nehmen kann: "Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?" (Lk 2,49).
Wenn wir uns jetzt noch einmal nach der Familienähnlichkeit dieses Kindes fragen, dann müssen wir eindeutig sagen: Hier ist dieses Jesuskind, dieser Heranwachsende, bei dem sich schon das Sendungsbewusstsein des Erwachsenen ankündigt, ganz der Vater, und zwar der Vater im Himmel!
Mit der religiösen Volljährigkeit, die sich im Judentum vor allem zu Beginn des letzten Jahrtausends fest etablierte und im 14. Jahrhundert unter dem Namen Bar Mitzwa, Sohn des Gebotes bzw. Sohn der Pflicht, zu einem Fest am lebensgeschichtlichen Übergang vom Kind zum Erwachsenen entwickelte, hat die geschilderte Szene zwar nicht unmittelbar zu tun, doch lässt sich wohl eine gemeinsame Wurzel annehmen. Der zwölfjährige Jesus ist innerlich seiner Familie entwachsen, er sucht den Kontakt zu den Lehrern, den Schriftgelehrten, er ist Hörender und Lernender. Dabei wird jedoch deutlich, dass diese Interaktion wechselseitig ist und auf Augenhöhe geschieht: Er hört nicht nur zu und fragt nach, sondern beantwortet auch seinerseits Fragen: "Alle, die ihn härten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten." (Lk 2,47).
Nur zu gerne wüsste ich, welche Themen diese rein äußerlich so ungleichen Gesprächspartner behandelt haben! Ob es schon die zentralen Themen des erwachsenen Rabbi aus Nazaret waren? Solche Überlegungen hat wohl auch Schalem Asch (1880-1957) in seinem Roman "Maria, Mutter des Erlösers"[1] angestellt. Er lässt den jungen Jeschua angesichts der Schlachtung der Lämmer vor dem Feiertag drei Verse aus Psalm 51,17ff zitieren: "Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde! Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie geben, an Brandopfern hast du kein Gefallen. Schlachtopfer für Gott ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen." [2]
Die Opferkritik, die in diesen Gebetsworten zur Sprache kommt, findet sich besonders bei den Propheten; so heißt es z.B. bei Hosea: "Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer" (Hos 6,6). Damit weist er daraufhin, dass selbst zahlreiche Opfergaben ein Leben nach den Geboten nicht ersetzen können. Im Roman ist der Disput mit einem Gelehrten nun der Anlass, dass Jeschua in einer plötzlichen Eingebung begreift, dass "der Messias das Lamm Gottes war. Sein wunder Leib trug die Seelen aller, und durch sein Leben, das er Gott mit seinem Blut am Altar darbrachte, nahm er alle Sünden hinweg von Israel und band dessen gemeinsame Seele an den Vater im Himmel ..."[3]– so spannt der Romancier einen Bogen von der intuitiven Identifikation seines Protagonisten mit dem leidenden Gottesknecht, wie ihn der Propheten Jesaja (Jes 53) schildert, zur dunklen Vorahnung des eigenen Kreuzestodes.
Es tut gerade in Zeiten wachsenden Antisemitismus not, sich zu vergegenwärtigen, dass Jesus Christus sein Leben lang Jude blieb und daher der kirchliche Antijudaismus zu den größten schuldhaften Verirrungen der Christenheit gehört. Mit dem II. Vatikanischen Konzil hat sich die katholische Kirche – Gott sei Dank – auf ihre Wurzeln im Judentum besonnen[4] und um Vergebung für das unvorstellbare Leid gebeten, für das eine jahrhundertelang fehlgeleitete theologische Argumentation den Boden bereitete. Noch 1879 musste der Berliner Maler Max Liebermann erleben, dass seine bildnerische Umsetzung des Motivs "Der zwölfjährige Jesus im Tempel" nicht nur auf Widerspruch stieß, sondern eine wahre Hasskaskade auslöste. Ein lauter und dominanter Teil der bürgerlichen Gesellschaft des Kaiserreiches sah einen "Skandal" darin, dass der Jesusknabe sehr naturalistisch dargestellt war, lebhaft mit den Händen gestikulierte und dabei auf Augenhöhe mit sehr viel älteren Männern sprach- oder wie es die Kunsthistorikerin Inka Bertz auf den Punkt brachte, "dass Jesus als Jude unter Juden von einem Juden gemalt wurde."[5]
Der Künstler, der nach eigener Aussage schlicht "ein religiöses Bild" hatte malen wollen, "war durch diesen Vorfall so erschüttert, dass er (es) später in Teilen übermalte"[6] und zwar so, dass es der vorherrschenden Ikonografie und den Sehgewohnheiten der Zeitgenossen entsprach. Wer heute, ganz gleich ob mit oder ohne dieses Hintergrundwissen, Liebermanns Gemälde betrachtet, spürt jedoch auch noch in der nun einzig überlieferten Fassung, wie intensiv sich der junge Maler mit der Bibelstelle auseinandergesetzt hatte. Sie dokumentiert ja gewissermaßen einen Einbruch der Transzendenz in den Alltag: Ein Kind, beseelt vom Heiligen Geist, verblüfft seine erwachsenen Zuhörer durch seine Kenntnis der Offenbarung, lässt sie nachdenklich werden und löst Staunen und Ehrfurcht aus vor den unerforschlichen Wegen Gottes…
Eine ähnlich überraschende Reaktion auf ganz "normale" familiäre Wünsche erzählt uns das Matthäusevangelium vom erwachsen gewordenen Jesus von Nazaret. Er befand sich gerade im Gespräch "mit den Leuten (...), da sagte jemand zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Siehe, meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter" (Mt 12,46-50). Diesen so unmissverständlichen Hinweis sollten auch wir beherzigen, wenn wir uns für unseren Herrn Jesus Christus entscheiden, wenn wir zu seiner Familie gehören wollen!
Die verbleibenden Adventstage und das kommende Weihnachtsfest könnten also ein Anlass sein, darüber nachzudenken, wie groß unsere Familienähnlichkeit mit IHM schon ist, und zugleich eine Einladung, mit IHM ins Gespräch zu gehen, IHM zuzuhören und unser Herz für SEIN Kommen zu öffnen. Amen.
[1] Schalom Asch. Maria Die Mutter des Erlösers Zürich: Dianaverlag AG 1950 und 1988. Lizenzausgabe Weltbild Augsburg 1991
[2] Zit. n. der Einheitsübersetzung 2016
[3] Schalom Asch, Maria, S. 297
[4] vgl. Nostra aetate, Nr. 4: „Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist. So anerkennt die Kirche Christi, daß nach dem Heilsgeheimnis Gottes die Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung sich schon bei den Patriarchen, bei Moses und den Propheten finden. Sie bekennt, daß alle Christgläubigen als Söhne Abrahams dem Glauben nach in der Berufung dieses Patriarchen eingeschlossen sind und daß in dem Auszug des erwählten Volkes aus dem Lande der Knechtschaft das Heil der Kirche geheimnisvoll vorgebildet ist Deshalb kann die Kirche auch nicht vergessen, daß sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schößlinge eingepfropft sind Denn die Kirche glaubt, daß Christus. unser Friede. Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und beide in sich vereinigt hat Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels Paulus vor Augen, der von seinen Stammverwandten sagt, daß „ihnen die Annahme an Sohnes Statt und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gehören wie auch die Väter und daß aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt“ (Röm 9,4-5). Der Sohn der Jungfrau Maria Auch halt sie sich gegenwärtig, daß aus dem jüdischen Volk die Apostel stammen, die Grundfesten und Säulen der Kirche, sowie die meisten jener ersten Jünger, die das Evangelium Christi der Weit verkündet haben.- Wie die Schrift bezeugt, hat Jerusalem die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt, und ein großer Teil der Juden hat das Evangelium nicht angenommen. 1a nicht wenige haben sich seiner Ausbreitung widersetzt Nichtsdestoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis der Apostel immer noch von Gott geliebt um der Vater willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich. Mit den Propheten und mit demselben Apostel erwartet die Kirche den Tag, der nur Gott bekannt ist, an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm "Schulter an Schulter dienen" (Soph 3,9) (12) Da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist. Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. Gewiß ist die Kirche das neue Volk Gottes. trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern. Darum sollen alle dafür Sorge tragen, daß niemand in der Katechese oder bei der Predigt des Gotteswortes etwas lehre, das mit der evangelischen Wahrheit und dem Geiste Christi nicht im Einklang steht. Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben Auch hat ja Christus. wie die Kirche immer gelehrt hat und lehrt, in Freiheit, um der Sünden aller Menschen willen, sein Leiden und seinen Tod aus unendlicher Liebe auf sich genommen, damit alle das Heil erlangen. So ist es die Aufgabe der Predigt der Kirche, das Kreuz Christi als Zeichen der universalen Liebe Gottes und als Quelle aller Gnaden zu verkünden." (Orthographie im Original).
[5] Inka Bertz. Anatomie eines Kunstskandals. In: Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik. Hrsg. v. Martin Faas (= Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung in der Liebermann-Villa am Wannsee) Berlin 2009, S. 89-101, hier: S.94.
[6] Chana Schütz, Max Liebermann vor Gericht. Ein Essay im Berliner Börsen-Courier. ln: Ebd, S 79-82,hier: S. 81 und 80.