„Die Welt ist kein Haifischbecken!“
Diese Zahlen müssen wir uns auf der Zunge zergehen lassen, nicht weil sie süß sind, sondern weil sie bitter schmecken: 923 Millionen Menschen auf der Welt hungern. Und von den 1,2 Milliarden Menschen, die extrem arm sind, leben drei Viertel auf dem Land. Das ist zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit.
Es ergeht uns heute wie den Jüngern von damals. Auf dem Gipfel wollten sie sich niederlassen und das Panorama genießen. Doch schnell ist er aus, der Traum vom Berghotel auf Tabor. Sie müssen hinunter in die Niederungen des Lebens, wo das Kreuz wartet. Berg Tabor und Tutzing: Mitten im Fest, das die Weltkirche heute feiert, meldet sich MISEREOR zu Wort. MISEREOR drängt uns, mit Jesus abzusteigen dorthin, wo Not und Leid auf der Tagesordnung sind. MISEREOR ist unbequem. MISEREOR stellt bohrende Fragen: Wovon lebt der Mensch? Wovon leben wir? Warum können die einen nicht überleben, während andere im Überfluss leben? Wir leben vom Brot. Der Magen hat sein eigenes Recht, bei aller Bedeutung von Kopf und Herz. Wir brauchen uns unserer leibhaftigen Bedürfnisse nicht zu schämen. Gott denkt auch an unseren Hunger. Ist es ein Zufall, dass Jesus erst mehrmals die Brote in der Wüste vermehrt hat, bevor er im Abendmahlssaal Brot nahm, um die erste Messe zu feiern? Ich glaube nicht: Es ist göttliche Pädagogik. Es geht Jesus nicht nur um den Himmel danach, sondern auch um das Brot auf dieser Erde: »Unser tägliches Brot gib uns heute...« Diese leibhaftige Bitte aus dem »Vater unser« sprechen wir auch heute wieder als Tischgebet, bevor wir die hl. Kommunion empfangen: »Unser tägliches Brot gibt uns heute...«
Jeder Mensch braucht Brot. Nur - allein kann er seinen Hunger nicht stillen. Wir beten nicht: »Mein Brot gib mir«, sondern »unser Brot gib uns». Gott hat es sich nicht so gedacht, wie wir es manchmal bei den Fischen beobachten: Wir stehen am Teich und werfen Brotstückchen ins Wasser. Die Fische kommen, und einer schnappt's dem anderen weg. Wir amüsieren uns an diesem traurigen Spiel. Traurig zumal, wenn wir bedenken, dass sich darin unser eigenes Verhalten widerspiegelt. Denn Hunger ist nicht in erster Linie eine Frage der ausreichenden Erzeugung von Nahrungsmitteln, sondern eine Frage der Möglichkeiten der Menschen, Nahrungsmittel zu kaufen oder selbst zu erzeugen. Vielen Menschen wird der Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen wie Land, Wasser, Weide versperrt. Andere verlieren ihre Ressourcen, weil die Böden unfruchtbar und die Quellen versiegt sind, weil Pflanzen und Tierarten verschwinden, weil den Bauern traditionelle Nutzungsrechte und lokale Märkte vorenthalten werden. So ist Hunger das Resultat ungerechter Verteilung der Güter, die Gott für alle Menschen geschaffen hat. Was ist aus unserer Welt geworden? Ist Gottes Schöpfung sein Garten (vgl. Papst Franziskus), ein Biotop des Lebens, oder ein Haifischbecken, wo die Starken die Schwachen fressen und schlucken? Knurrende Mägen führen zu knarrenden Waffen. Ich prophezeie: Hunger-Unruhen werden in politische Revolten münden, nicht weil die Menschen gewaltbereit wären, sondern weil sie keine Hoffnung mehr sehen.
Eigentlich ist es unter unserem Niveau, wenn wir nur an den eigenen Hunger denken und auf Kosten anderer zuschnappen. Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme des einzelnen, es ist ein gemeinsames Geschehen und stiftet Gemeinschaft: unser tägliches Brot... Wer nur seinen Hunger stillen will und den armen Lazarus vor der Tür der Märkte sitzen lässt, der kann eigentlich nicht als Mensch essen, erst recht nicht als Christ. Brot wird dann menschlich, wenn es unser gemeinsames Brot wird.
Unser Brot - »Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit«. Das Korn wird gesät, geerntet, gemahlen. Viele Menschen wirken zusammen, bis dieses Stück Brot in meiner Hand liegt. Ein ganzes Netz von Beziehungen steckt darin: verborgene Tränen, die aus Ungerechtigkeit und Ausbeutung kommen, aber auch die leise Ahnung und Verheißung für geschwisterliches Miteinander, menschliches Elend ebenso wie menschliche Größe, das alles schwingt mit in diesem Stück Brot in meiner Hand. Nun hab' ich's in der Hand, was daraus wird. Wenn ich das Brot auf Kosten anderer esse, kann es dann eine gesegnete Mahlzeit sein? Die kann es nur werden, wenn ich das Brot teile. Geteiltes Brot ist unser Brot, ist Gottes Brot.
Der Kirchenvater Basilius sagt: »Dem Hungernden gehört das Brot, das bei dir zu Hause verdirbt. Dem Barfüßigen gehören die Schuhe, auf die sich unter deinem Bett Schimmel setzt. Dem Nackten gehört die Kleidung, die in deinem Kleiderschrank hängt. Dem Elenden gehört das Geld, das in deiner Schatulle an Wert verliert.« Das ist eine klare Sprache. Die können wir nur verstehen, wenn wir nicht nur etwas vom Überfluss abgeben, sondern teilen auch auf Kosten der eigenen Substanz. »Der Geschmack des Brotes, das du teilst, ist unvergleichlich«, sagt Antoine de Saint-Exupery. Hat nicht bei uns vieles deswegen einen bitteren Nachgeschmack, weil wir zuerst selbst satt sein wollen, statt zu teilen? Verlieren wir dann schließlich nicht den Geschmack am eucharistischen Brot? Es darf doch nicht dahin kommen, dass die Kirche im Norden immer mehr den Anschein einer Religion des Wohlstandes erweckt und dass sie im Süden wie eine Volksreligion der Unglücklichen wirkt, die brotlos sind und deren Brotlosigkeit sie von unserer eucharistischen Tischgemeinschaft ausschließt. Es kann doch nicht sein, dass in der Kirche wie in der Gesellschaft die Notleidenden und die Zuschauer der Not einfach nur auf ihren Plätzen bleiben und dass sich nichts ändert. Die »Eine-Welt-Kirche« darf nicht einfach nur ein Spiegel sein für die sozialen Gegensätze unserer Welt. Das wäre zu billig. Sonst leistet sie gedankenlos denen Vorschub, die Religion und Kirche sowieso nur als Überhöhung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse verstehen (vgl. Würzburger Synode »Unsere Hoffnung« IV 3).
Wovon lebt der Mensch? Wovon leben wir? Wir leben vom Brot. »Unser tägliches Brot gib uns heute...« Leben wir nur vom Brot? »Der Geschmack des Brotes, das du teilst, ist unvergleichlich.« Warum? Es ist der Geschmack der Mitteilung, der Hingabe, der Liebe. Da geben wir nicht etwas, sondern uns selbst. Das geteilte Brot sagt ohne Worte: Ich will, dass es dich gibt, dass du lebst. Der Mensch lebt vom Brot der Liebe.
Davon war der ehemalige Erzbischof von Olinda-Recife im Nordosten Brasiliens zutiefst überzeugt. Sein Name ist Dom Helder Camara. Vor einigen Jahren durfte ich mit einer Gruppe von Franziskanerinnen von Maria Stern sein Grab besuchen und das Haus, wo er bis zu seinem Tod gewohnt und gearbeitet hat. Das Bischofspalais in Olinda hatte der Hirte bewusst verlassen, um in einer Sakristei zu wohnen: Er hat die Welt in die Sakristei getragen und das Sakrale in die Welt. Nichts Fürstbischöfliches, nichts Abgehobenes, ganz menschlich hat diese große Persönlichkeit gelebt, die so klein und zerbrechlich war an Gestalt. Nicht mit bischöflichen Schnallenschuhen, sondern barfuss ging er in die Favelas, die Elendsviertel seiner Diözese und teilte mit den Armen Brot und Leben: ein Freund von MISEREOR, ein Botschafter dieses guten Werkes.
Wiederholt vorgeschlagen für den Friedensnobelpreis, kam es nie dazu, weil er manchen Reichen und Mächtigen in Brasilien ein Dorn im Auge war. Die Sorge um das gemeinsame Haus stand bei ihm ganz oben. Auch Gedichte hat er dazu geschrieben, ohne „Wortgewalt“. Mit dem Motto von MISEREOR, „mit Zorn und Zärtlichkeit“ legte er den Finger in die Wunde der Ungerechtigkeit. Für die Gerechtigkeit kämpfte er mit den Waffen des Evangeliums: Er glaubte fest daran, dass das Volk Gottes nicht im Tal der Armut untergeht, sondern dass Jesus es mit hinauf nimmt auf den Gipfel von Tabor. Diese Gewissheit hat Dom Helder Camara Kraft gegeben durchzuhalten. In einem Interview, das zu seinem 100. Geburtstag 2009 noch einmal ausgestrahlt wurde, zog er Bilanz: „Ein Scheckbuch lässt sich nicht in den Tod mitnehmen. Angesichts der Ewigkeit gilt als einzige Währung: gelebte Liebe.“ MISEREOR ist gelebte Liebe.