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Wichtiges
Ansprache von Bischof Bertram zum Abschluss der Woche der Brüderlichkeit am 13.3.2022 in Augsburg

"Gott bleibt die Antwort nie schuldig"

13.03.2022

Sehr geehrter Herr Regionalbischof, lieber Axel, sehr geehrter Herr Rabbiner Katz, sehr geehrter Herr Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg, sehr geehrte, liebe Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrte, liebe Mitglieder der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit, liebe Geschwister im Glauben an den einen Gott Israels, den Jesus Christus seinen Vater nannte,

soeben haben wir einen Abschnitt aus dem 3. Buch Mose (Lev 19, 1.15-18) gehört, das im Ganzen gelesen, sehr konkrete und detaillierte soziale, liturgische und ethische Bestimmungen enthält. Die Verbindung zum Leitwort der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit „Fair play – jeder Mensch zählt!“ wird allerdings schon in den wenigen ausgewählten Versen deutlich. Zentral ist dabei die Einleitung dieses Toraabschnittes; macht sie doch unmissverständlich klar, wo der Ursprung für das gerechte und edle Handeln des Menschen – beide Aspekte stecken ja im englischen „fair“ - zu suchen ist: Ausgangspunkt und Maßstab ist die Heiligkeit des ewigen Schöpfers: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ - Welch ein Anspruch!

Es kann für mich als Gläubigen nur heilsam sein, sich diesem Anspruch in einen Moment absoluter Aufrichtigkeit auszusetzen, mich dem Ewigen zu stellen und dem zu öffnen, was ich – wenn auch nur ansatzweise - von SEINER Heiligkeit erahnen kann. Ich bin mir sicher: Wer dies regelmäßig tut, wer sich IHM aussetzt, der wandelt sich. Schon manche Menschen, die wir als Heilige, als Vorbilder titulieren oder die uns als sog. Alltagsheilige begegnen, verbreiten ja eine Aura des Echten und Durchscheinenden, die uns ehrfürchtig werden lässt, ohne uns jedoch klein zu machen.

Und genau dies ist die Botschaft des uns - Juden wie Christen - verbindenden Glaubens; die über die Jahrtausende heute noch aktuelle Botschaft, solange Menschen sich von Geburt an danach sehnen, gesehen und geliebt zu werden.

Mit jedem Kind, das das Licht dieser Welt erblickt, beginnt das beglückende Spiel des Wahrnehmens und Wahrgenommenseins aufs Neue. Eltern wie Kinder entwickeln eine enorme Ausdauer dabei, sich die Augen zuzuhalten und sie wieder zu öffnen, um sich gegenseitig den Blick der Liebe zu schenken.

Warum nur tun wir uns so schwer, diese Erfahrung mit ins Leben hineinzunehmen?

Alle Gebote und Verbote, von denen wir im Gesetz des Mose lesen, haben ja nur den einen Zweck - uns als Geländer, als Halt zu dienen, damit wir uns nicht verlieren: an Dinge und Besitz oder an Macht, Unterdrückung und Ausbeutung derer, die unseresgleichen sind, unsere Schwestern und Brüder, Kinder eines Schöpfers.

Für IHN, der jedes Geschöpf unendlich liebt, weil er jedes von Ewigkeit her gewollt hat, ist jeder einzelne Mensch einzigartig und unantastbar. Würden wir es ihm gleichtun, könnten wir den Reichtum und die Glückseligkeit eines solchen Miteinanders erfahren. Die Voraussetzung dafür ist das Wahrwerdenlassen jenes ebenso kurzen wie bahnbrechenden Satzes: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“ (Lev 19,18). Martin Buber übersetzte wörtlich: Liebe Deinen Nächsten – er ist wie Du. Müsste uns das nicht entwaffnen?

Doch da ist die Angst, die mit zunehmendem Alter vielleicht sogar wächst: die Angst, zu kurz zu kommen, keinen Anteil am Kuchen zu bekommen. Sie verleitet uns, ganze Bücherregale damit zu füllen, wie das Wort in der Bibel genau gemeint sein könnte und führt schließlich auch dazu, zwischen dem Nächsten und dem Übernächsten streng zu unterscheiden…

Doch so sehr wir unsere Interpretierfreudigkeit daran üben- diese Aufforderung, Liebe deinen Nächsten – er ist wie Du, die nach einer Aussage des weisen Hillel die ganze Tora enthält, wird im Buch Tobit (Tob 4, 15) so konkret, dass sie unmittelbar einleuchtet. Vielen ist sie von der Schule her als Reimspruch vertraut: „Was Du nicht willst, dass man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Bestimmt können wir alle sagen, dass sich nach dieser Fassung besser leben lässt – auch wenn wir am Abend bei der Gewissenserforschung immer wieder feststellen müssen, dahinter zurückgeblieben zu sein.

Fair play - ehrlich währt am längsten. Eine transparente Lebensführung und das konsequente Festhalten an ethischen Werten war zu keiner Zeit ein Kinderspiel. Heute mag allerdings die Versuchung, Fairness und Anstand zu ignorieren, noch größer geworden sein. Zu Hass und Hetze führt oft nur ein Klick, die Anonymität in den sog. Sozialen Medien verleiten dazu.

Fair play in a fair life – wer sich heute diesen beinahe zum Schlagwort verkommenen Slogan zu seiner Lebensregel macht, teilt nicht selten auch das Schicksal des verleumdeten und verfolgten Gerechten, das sooft in den Psalmen und der biblischen Weisheitsliteratur thematisiert wird. „Wo sind jetzt deine Werke der Barmherzigkeit? Wo sind deine gerechten Taten?“, fragt die verzweifelte Hannah ihren hilflos blinden Ehemann (Tob 2,14). Was hast Du jetzt davon, dass Du so gutmütig, so mutig, so selbstlos gewesen bist?

Sicher haben wir alle uns solche Fragen schon einmal gestellt und können uns mit Tobit identifizieren, der daraufhin „in der Seele tieftraurig (wurde), seufzte, weinte und unter Seufzen zu beten begann: Gerecht bist Du, Herr, und alle Deine Wege sind Barmherzigkeit und Wahrheit. Du bist der Richter der Welt“ (Tob 3,1).

In guter Absicht gehandelt zu haben und nicht verstanden zu werden, tut weh und vielleicht geht es Ihnen dann wie mir: Wo auch eine Darlegung der eigenen Gründe, eine verbale Rechtfertigung, ja, die Bitte um Entschuldigung nicht oder nur halbherzig akzeptiert werden, da bleibt eine Narbe zurück, die nicht so schnell heilen will. Das sprichwörtliche Elefantengedächtnis tut ein Übriges dazu, dass wir dazu neigen, nachtragend zu sein.

Da hilft es, aktiv loszulassen und alles, restlos alles dem Herrn anzuempfehlen, am besten mit den Worten Tobits: „Du, Herr, bist der Richter der Welt.“ Nicht von ungefähr tragen sowohl er wie auch sein Sohn Tobias ihr Lebens- und Glaubensprogramm bereits im Namen: „Gott ist gut“. Und sie halten fest daran: Es gibt ein Ohr, zu hören meine Klage, Ein Herz …, sich des Bedrängten zu erbarmen“, auch wenn Goethes Prometheus dies nicht zugestehen will.

Wir vertrauen darauf: Gott bleibt die Antwort nie schuldig, selbst dann nicht, wenn irdisch gesprochen, ‚alles zu spät‘ ist. Weil Gott gut ist, können auch wir es immer wieder von Neuem wagen, es IHM gleichzutun. Amen.