Ein Haus der Heilung
Lieber Pater Matt, liebe Mitbrüder im priesterlichen und diakonalen Dienst, liebe Frau Generaloberin Sr. M. Jakobe Schmid, liebe Mallersdorfer Schwestern hier vor Ort und aus dem Mutterhaus, liebe Schwestern und Brüder im Glauben an den dreifaltigen Gott, als der junge Sebastian Kneipp spürte, dass seine Kräfte von Tag zu Tag abnahmen und er dem Tod ins Auge sehen musste, mobilisierte er, so können wir es uns vorstellen, alle inneren Reserven und suchte nach einem Weg, der ihm Leben und Zukunft versprach.
Sicher hat er viel gebetet und wahrscheinlich auch mit Gott gehadert, warum der ihm, der nach all der Mühe, als bitterarmer Weberssohn seinem Herzenswunsch, Priester zu werden, schon greifbar nahegekommen war, nun einen kompletten Strich durch die Rechnung machen wollte. Salopp gesagt war Kneipp an jenem Punkt, an dem gilt: Helfe, was helfen mag! Deshalb zögerte er nicht, sich den recht drakonischen Maßnahmen zu unterziehen, die Dr. Hahn in seinem Praxisbuch „Unterricht von Kraft und Wirkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen“ empfohlen hatte. Jeder von uns kann nachempfinden, welche Selbstdisziplin dazu gehörte, sich über Wochen hin zu zwingen, in die eiskalte Donau einzutauchen… Doch Kneipp genas und wurde mit seinem am eigenen Leib erprobten Wissen – das kann man ohne Übertreibung sagen: zum Segen der Menschheit!
Wie sieht es demgegenüber mit unserem erworbenen Erfahrungsschatz aus? Wenn ich hier in die Runde schaue, dann sehe ich hauptsächlich ältere, vom Leben modellierte Gesichter. Sie erzählen von Höhen und Tiefen, von Erfahrungen der Freude und des Glücks ebenso wie von Not, Schmerz und Einsamkeit.
Was machen wir mit diesen, in einem nicht selten langen Leben erworbenen Erfahrungen? Können und wollen wir sie mitteilen, zur Lehre und Auferbauung der nächsten Generation? Und: Finden wir dafür aufmerksame Zuhörerinnen und Zuhörer in unserem oft völlig durchgetakteten Alltag?
Kneipp gehörte Gott sei Dank (noch) nicht zu jenen, oft von Krankenversicherung und überstrapaziertem Gesundheitssystem getriebenen Ärzten, die gerade mal fünf Minuten für den Patientenkontakt investieren können. Er betrachtete, lange bevor das Wort Allgemeingut wurde, den Menschen „ganzheitlich“ und innerhalb seiner fünf Säulen nahm die „innere Ordnung“, heute oft „Balance“ genannt, einen zentralen Platz ein. Als gläubiger Mensch scheute er sich nicht, den Hilfesuchenden von der „Beziehung zum Herrgott“ zu sprechen, die es in Ordnung zu bringen gelte, wollte man ganz und gar geheilt werden.
Genau an diesem Punkt setzt das heutige Evangelium an: Jesus begegnet der Samariterin am Jakobsbrunnen. Bewusst wird mit dem Ort der Bogen in die Anfangszeit des Volkes Israel geschlagen. Jakob, der nachgeborene Sohn Isaaks und Enkel Abrahams, hatte mehrere bedeutsame Gotteserfahrungen gemacht: Er sah eine Leiter, die von der Erde zum Himmel ragte und gleichsam den Engeln, den Boten Gottes, als Brücke zwischen den beiden Sphären diente und er kämpfte eine ganze, lange Nacht mit einem Unbekannten, von dem er kurz vor Morgengrauen an der Hüfte verletzt wurde und sich dennoch (oder gerade deswegen?) zum Abschied den Segen erbat.
Jesus, Menschensohn und Gottesknecht, steht in der Tradition dieses unmittelbaren und körperlich spürbaren Gotteskontaktes. Sein Gespräch mit der Samariterin zeigt, wie sehr ihm daran gelegen war, dass diese scheue, aber lebenserfahrene Frau ihn als Messias, als Heiland erkannte. Als verbindendes Zeichen zwischen den beiden steht das Wasser: lebensspendend und lebensnotwendig – heute beginnen wir gerade erst zu erahnen, wie kostbar das Wasser in seiner Endlichkeit auf unserer Erde ist!
Gemeinsam mit den Pflanzen und Tieren sind wir Menschen auf Wasser angewiesen und der Kampf darum tobt heute schon in manchen Weltregionen unerbittlich, wenn auch von der Öffentlichkeit kaum beachtet. Wir müssen trinken, um die Körperfunktionen aufrecht zu erhalten und wissen alle, wie schwer es ist, ältere Menschen, die kaum mehr ein Durstgefühl mehr haben, dazu zu bringen, ausreichend Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Essen und Trinken kann ab einem gewissen Alter richtig anstrengend sein!
Die Samariterin weiß wie Millionen Frauen und Kinder, wie mühevoll und gefährlich der Gang zur oft kilometerweit entfernten Wasserstelle sein kann, ganz abgesehen von der Sorge, dass der Brunnen einen zu niedrigen Wasserstand haben könnte oder gar ausgetrocknet ist. Welch eine Verheißung ist es da, wenn Jesus sagt: „Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben fließt“ (Joh 4,13-14).
Liebe Mallersdorfer Schwestern, ich wende mich jetzt direkt an Sie:
Vor Jahrzehnten sind Sie dem Ruf Gottes gefolgt und haben sich der Nachfolge Jesu Christi verschrieben. Sie stellten sich ganz in den Dienst der Kranken und Bedürftigen gemäß Pfarrer Kneipps Devise: „Wer bemüht ist, sein eigenes Glück zu suchen, der ist auch den anderen gern behilflich dazu.“
Ich hoffe und wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie Ihr Glück gefunden haben, im Orden und im täglichen Dienst der Nächstenliebe – vor allem aber in einer vertrauten Freundschaft mit Christus, in der das Herz zum Herzen spricht und Sie aus Erfahrung sagen können: Ja, Christus hat seine Verheißung an mir erfüllt, ich habe die Quelle entdeckt, „deren Wasser ins ewige Leben fließt“!
Heute spricht man gern davon, dass viele Menschen religiös unmusikalisch sind und deshalb nicht den Weg zum Glauben finden können. Doch behaupte ich, dass kein Mensch ohne Musik lebt oder leben kann: Vogelgezwitscher, Bach– und Meeresrauschen, aber auch Motorenlärm und die Bässe aus den Lautsprechern gehören ja, je nach Vorliebe, zu den alltäglichen Stimulantien vieler Zeitgenossen.
Stille dagegen wird nicht selten gemieden und mit Langweile gleichgesetzt. Und doch ist sie unbedingte Voraussetzung dafür, dass ich in einem zwischenmenschlichen Gespräch den anderen wirklich wahrnehmen, mich auf ihn einlassen kann. Im Dialog zwischen der Samariterin und Jesus spüren wir etwas von der Stille der Mittagshitze ringsum, von der Ausgedörrtheit der kargen Landschaft – Es gibt nichts, was ablenkt: ein Mann, eine Frau, ein Brunnen dazwischen…
Fehlt uns in Europa heute vielleicht die Konzentration auf das Wesentliche, ertrinken wir inmitten des Überflusses an Dingen und Eindrücken, an Licht- und Luftverschmutzung und können nicht mehr unterscheiden, zwischen wahr und unwahr, gut und böse, richtig und falsch – wichtig und unverzichtbar auf der einen und unwichtig und banal auf der anderen Seite?
Nur die Stille lässt uns die Kriterien zur Unterscheidung in uns selbst entdecken, denn nur, wenn wir uns zurückziehen, spüren wir, dass wir eine „innere Ordnung“ in uns tragen, das Gleichgewicht bzw. die Balance. Sie gilt es wiederzuentdecken und freizulegen, wie eine vergessene Quelle. Trauen wir uns, ganz egal in welchem Alter wir stehen und was die anderen von uns sagen, wie die Samariterin von unserer Begegnung mit Jesus zu erzählen!
Ich bin sicher, bei Gott trägt dies ebenso reiche Frucht wie damals: „Aus jener Stadt kamen viele Samariter zum Glauben an Jesus auf das Wort der Frau hin (…). Und noch viel mehr Leute kamen zum Glauben an ihn aufgrund seiner eigenen Worte. Und zu der Frau sagten sie: Nicht mehr aufgrund deiner Rede glauben wir, denn wir haben selbst gehört und wissen: Er ist wirklich der Retter der Welt“ (Joh 4,39-42).
Auch wenn Bad Wörishofen und das Kneippkurhaus St. Josef kein kirchlicher Gnadenort ist wie z. B. Maria Brünnlein in Wemding, Wunder sind sicher auch hier in den vergangenen 100 Jahren immer wieder geschehen: körperliche Heilungen und Lebensentscheidungen, die zu Neuorientierung und seelischer Stabilität führten. Daher ist es in meinen Augen nicht vermessen, das Wort aus der Vision des Propheten Ezechiel, das wir vorhin gehört haben, unsichtbar auch über das Kneippkurhaus St. Josef zu schreiben: „Das Wasser kommt aus dem Heiligtum“ (Ez 47,12). Es hat seinen Ursprung im Tempel Gottes und in jenem von Gott bewohnten Herzensraum all derer, die als Ordensschwestern und Mitarbeitende zum Heil ihrer Mitmenschen hier tätig sind. Amen.
Lesungen: Ez 47,1-2.8-9.12; Joh 4,5-42