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Wichtiges
Predigt anlässlich der Feier zu 175 Jahre Regens Wagner Stiftungen am 29. April 2022 in Dillingen

„Ein riskanter Anfang: Nur gemeinsam meistern wir Krisen.“

29.04.2022

Liebe Bewohnerinnen und Bewohner hier von Regens Wagner Dillingen und in allen Regens Wagner–Stiftungen,
liebe ehrwürdige Franziskanerinnen, die Sie bei und in Regens Wagner leben und tätig sind,
liebe Sr. Roswitha, Sr. Martina, Sr. Gerda und alle Schwestern im General- und Provinzrat,
verehrte, liebe Frau Staatsministerin Scharf,
liebe Mitbrüder im geistlichen Amt, verehrter Herr Direktor Remmele, lieber Rainer,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Regens Wagner Stiftungen,
liebe Festgäste aus Politik und Gesellschaft,

liebe Schwestern und Brüder, seit einigen Jahren ist der Satz: „Weniger ist mehr“ zum Zauberwort geworden. Er drückt die Sehnsucht aus von Menschen, die mehr haben, als sie brauchen, und doch nicht genug; von Menschen, die sich innerlich leer fühlen und oft ohne Richtung und Ziel für ihr Leben sind. Andererseits sehen wir an vielen Geflüchteten, aktuell aus der Ukraine, wie erschreckend wenig ein Mensch mitnehmen kann, wenn er aufbricht, um das eigene und das Leben seiner Lieben, der Kinder und Eltern, zu retten.

Die Menschenmenge, von der im Evangelium die Rede war, ist nicht auf der Flucht und doch scheint auch sie Hals über Kopf aufgebrochen zu sein. Kaum einer hat an Proviant gedacht. Denn sie hatten gesehen, dass Jesus heilte und von Krankheit befreite. Wie viele chronisch Kranke, wie viele körperlich und seelisch Schwache mögen darunter gewesen sein, die nun eine winzige, aber umso beglückendere Chance sahen, ein neues Leben zu beginnen, ausbrechen zu können aus dem Käfig der Einschränkungen und begrenzten Möglichkeiten!

Genau diese Haltung ist es, die Jesus zu Herzen geht, ihn rührt die Begeisterungsfähigkeit, die in jedem von uns steckt – auf der Suche nach Geborgenheit und Heil. Gleichzeitig weiß Jesus: Wenn der Magen knurrt, dann sinkt die Laune und es breitet sich schlechte Stimmung aus.

Wer hungrig ist, kann sich nicht mehr konzentrieren und das Hinhören fällt schwer. Wir alle kennen das, z.B. aus unserer Schulzeit. Jesus gehört nicht zu den Lehrern, die von anderen unnötig Verzicht oder Verleugnung ihrer Bedürfnisse fordern. Wer das tut, muss aufpassen, dass er seinen Einfluss auf andere nicht missbraucht. Nein, Jesus ist auch in solch alltäglichen Situationen ganz Mensch und Mitmensch, voller Verständnis für das, was jetzt dran ist – und zwar, bevor seine Zuhörer über Hunger klagen. Er sorgt vor und bezieht seine Jünger in die Verantwortung mit ein:

  • Philippus scheint der kühle Rechner unter ihnen zu sein, er überschlägt die Zahl der Leute, schaut auf das Geld, das zur Verfügung steht – und muss passen: Das Geld reicht vielleicht, um jedem etwas zu geben, aber nicht, um auch nur einen Menschen wirklich satt zu machen. Kommt uns das nicht bekannt vor? Wir wollen ja helfen, aber, wenn uns bewusstwird, wie groß die Not wirklich ist, dann zucken wir mit den Achseln und geben auf.

  • Andreas macht es anders: Er hatte die Situation kommen sehen und gleich nach jemandem Ausschau gehalten, der Abhilfe schaffen kann. Und siehe da: Ein kleiner Junge ist klüger als viele Erwachsene. Er hat sein Pausebrot eingesteckt, fünf Gerstenbrote und zwei Fische hat er mitgebracht. Damit hätte er wahrscheinlich zwei bis drei Tage gut leben können.

Doch das wirklich Erstaunliche ist: Dieses Kind hat nicht nur klug für sich vorgesorgt, sondern es ist sogar bereit, von seinem Vorrat abzugeben. Der kleine Junge geht ein Wagnis ein: Er legt alles, was er hat, in die Hände Jesu, ohne zu wissen, was passiert; ohne zu wissen, ob er nicht am Schluss leer ausgeht. Er macht keine Rechnung auf, sondern schenkt rückhaltlos alles her. RISIKO!

Wenn wir heute das 175jährige Bestehen der Regens Wagner-Stiftungen feiern, dann sollten wir uns klarmachen, dass auch dieses große, stattliche Unternehmen aus solch einem riskanten Anfang entstand. Regens Wagner und die Lehrerin und Oberin des Dillinger Franziskanerinnenkonventes, Theresia Haselmayr, gingen ein Wagnis ein, als sie sich entschlossen, eine Schule für taubstumme Mädchen zu gründen – mit dem Wunsch, ihnen einen Platz in der Gesellschaft zu sichern, ein Leben in Würde zu ermöglichen. Schon der 19jährige Johannes Evangelist, gerade selbst erst erwachsen geworden, hatte sich vorgenommen: „Lebhaft denke man sich in die Lage des Hilfsbedürftigen hinein, denke sich ihn als Gleichen, als seinen Mitmenschen…“[1]

Dem Impuls des Herzens zu folgen und sich von der unmittelbaren Not des Mitmenschen anrühren zu lassen, das wird damals wie heute oft als Spinnerei oder neuerdings als sog. Gutmenschentum abgetan. Menschen, die alles auf eine Karte setzen, gab und gibt es immer nur wenige, deshalb waren sie ja auch so leicht zu isolieren. Die Mehrheitsgesellschaft grenzt sich schnell ab, die Banken geben keinen oder nur äußerst ungern Kredit für eine Unternehmung, die nicht von vorneherein erfolgversprechend ist. Da ist es wirklich eine göttliche Fügung, dass sich die fast gleichaltrigen ‚burning persons‘, Theresia Haselmayr und Johann Evangelist Wagner, in tatkräftiger Gottes- und Nächstenliebe treffen und sich, erstaunlich für das 19. Jahrhundert und auch im 21. noch nicht selbstverständlich, gleichrangig-geschwisterlich ergänzen. Die alte Weisheit wird Wirklichkeit: ‚Liebe ist in dieselbe Richtung schauen‘. Sie, liebe Schwestern, liebe Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, kennen die Geschichte der beiden, die wussten, dass man nur in Gemeinschaft bleibend Großes bewirken kann, besser als ich. Doch in dem historischen Augenblick, in dem ein Mächtiger in Europa, ohne Rücksicht auf Verluste seine Machtinteressen durchsetzt und eine breite Spur der Gewalt und des Todes zieht, kann man es nicht oft genug sagen: Nur gemeinsam können wir Krisen meistern. Nur wenn wir niemanden ausgrenzen, sondern inklusiv und integrativ wirken, wenn „der Mensch“, wie Sie es in Ihrer Einladung formuliert haben, Ausgangspunkt, „Mitte“ und „Ziel“ ist und bleibt, dann werden wir auch das Ziel unserer individuellen Sehnsucht und der Welt als Ganzes erreichen, nämlich die Fülle des Lebens (vgl. Joh 10,10), die Christus uns eröffnet.

Dass dieser Weg nicht geradlinig verlief, dass das neue Tätigkeitsfeld keine g’mahte Wiesn war, wie man im Bayerischen sagt, zeigen uns die Auseinandersetzungen mit kirchlichen und staatlichen Behörden, die Theresia Haselmayr und Regens Wagner zu bestehen hatten. Doch sie haben sich gegenseitig herzlich vertraut und wussten obendrein: Wo unsere Grenzen sind, da fangen die Möglichkeiten Gottes erst an!

Die Brotvermehrung für die Zehntausend – ich gehe davon aus, dass es mindestens ebenso viele Frauen und Kinder wie Männer waren, die Jesus folgten – zeigt genau dies: Wo wir rückhaltloses Vertrauen in die Waagschale werfen, da schenkt Gott in überreicher Fülle. Dabei ist Vertrauen nicht mit Sicherheit zu verwechseln. Wer nur ‚auf Nummer sicher gehen‘ will, wird in seinem Leben immer ängstlich, unfrei[2] und vermutlich auch tatenlos bleiben. Um Bleibendes zu schaffen, braucht es den beherzten Sprung ins Ungewisse, in den Glauben hinein!

Wenn man zudem weiß, dass es Menschen gibt, die hinter einem stehen, die stützen und auffangen, wenn man selbst zu wanken droht, dann ist das das Glück auf Erden. So scheint es Theresia Haselmayr mit ihren Mitschwestern gegangen zu sein und ebenso Regens Wagner innerhalb der Professorenkollegen und im Diözesanklerus, bis hin zum Bischof. Die Mehrheit war aufgeschlossen für neue, ungewöhnliche Wege, um alte Nöte zu lindern – und vermutlich auch im Stillen froh, die letzte Verantwortung nicht selbst tragen zu müssen.

Hand aufs Herz: Jede und jeder von uns hat wohl schon einmal davon geträumt, die Verantwortung für sich und alle Anvertrauten - sei es die Familie, die Mitarbeitenden oder ein großes Unternehmen - diese Last, die schwer auf den Schultern liegen kann, abzugeben an eine Macht, die größer ist – und uns mit allem versorgt, was wir brauchen! Diese Versuchung steht wohl hinter dem Ausruf der gesättigten Menge im Evangelium: „Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll.“ Weil Jesus aber erkennt, dass er hier instrumentalisiert und „zum „König“ gemacht werden soll, entzieht er sich diesem Ansinnen. Denn mit der wunderbaren Sättigung hat er deutlich gemacht, dass er nicht auf unsere Mitwirkung verzichten will. Er hat ein Zeichen gesetzt und ein Beispiel gegeben: Nun ist es an uns, dem kleinen Jungen nachzueifern und unsere Talente, unsere Empathie und Einflussmöglichkeiten einzusetzen, um sie vermehren zu lassen zum Wohl aller. Dann wird auch Wirklichkeit, was in der Lesung verheißen ist: „Wir wollen mit Euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit Euch.“ (Sach 8,23) Amen.

[1] zit. n. Niklaus Kuster, Wenn der Funke überspringt. Theresia Haselmayr und Regens Wagner. Eine Geschichte mit Zukunft. Ostfildern: Patmos 2021, S. 88.

[2] Die Redewendung stammt aus dem Gefängnisjargon: Die „Nummer Sicher“ ist die Zelle eines verurteilten Häftlings.