„Ein spirituelles Kraftwerk mit politischer Wirkung“
Schauplatz letztes Jahrhundert, Anfang der achtziger Jahre in Rom Trastevere: In einer Gruppe von Kommilitonen, die an der Gregoriana Theologie studieren und am Germanicum zu Priestern ausgebildet werden, kommt jemand mit einer Gemeinschaft/Bewegung in Kontakt, die am 7. Februar 1968 junge Leute in Gang gesetzt hatten. Die Gemeinschaft heißt Sant’Egidio, der junge Student bin ich.
Immer wieder gingen wir zum Abendgebet nach Santa Maria in Trastevere, wir kamen miteinander ins Gespräch. Wir erhielten einen Unterricht, den es so an der Uni nicht gab. Wir erfuhren, dass Gott und Welt eng zusammengehören. Wir lernten, dass Sakralität und Profanität kein Gegensatz sind, sondern einander bedingen und brauchen. An Sant’Egidio kann man es bis heute ablesen: Wer bei Gott eintaucht, der taucht automatisch auch wieder bei den Menschen auf.
Schließlich konnte ich erleben, dass Sant’Egidio nicht in erster Linie eine Institution ist, sondern eine geistliche Gemeinschaft. Alle Aktivitäten werden getragen vom Rhythmus des regelmäßigen Gebetes. Gleichzeitig hebt das Gebet nicht ab, es bleibt geerdet und widmet sich den aktuellen Herausforderungen, die sich gesellschaftlich und politisch stellen.
Unter den zahlreichen Bekannten und Freunden, die ich im Netzwerk Sant’Egidio finden durfte, möchte ich ein paar herausgreifen:
Andrea Riccardi, der Gründer, dem ich erst noch im vergangenen Herbst beim großen interreligiösen G20-Gipfel in Bologna begegnen konnte, wo ich über die Natur des interreligiösen Dialogs als Vertreter der deutschen Bischofskonferenz sprechen durfte.
Cesare Zucconi, der Generalsekretär, der einer meiner ersten Kontaktpersonen zur Gemeinschaft war und dessen Wohlwollen und Treue ich bis heute spüren darf. Gratulation zu seinem perfekten Deutsch!
Don Ambrogio Spreafico, der ehemalige Pfarrer von Santa Maria in Trastevere, ein exzellenter Kenner der Heiligen Schrift und auch als Bischof von Frosinone engagiert in der Ökumene und im interreligiösen Dialog.
Pfarrer Matthias Leineweber, der mich als spiritueller Mensch beeindruckt und dessen Dissertation in Bibeltheologie über die Witwen beim Evangelisten Lukas sich passgenau in die Spiritualität von Sant’Egidio einfügt. Auch im Synodalforum über Priesterliche Existenz arbeiten wir zusammen.
Ursula Kalb, mit der mich schon seit vielen Jahren Anknüpfungspunkte verbinden – noch ehe sie von Würzburg nach München gezogen ist. Gerade sie wurde in Laiengremien, wie dem Landeskomitee der Katholiken in Bayern, nicht müde, den Finger in eine blutende Wunde zu legen: Der Leib Christi ist unvollendet, wenn er die Armen, die Flüchtenden, die Menschen am Rande vergisst und ausgrenzt. Diese Mahnung ist Sant’Egidio, wie die Gemeinschaft leibt und lebt.
Gerade Frau Kalb und Pfarrer Matthias Leineweber danke ich herzlich für die Ehre, dass ich heute mit Ihnen, liebe Mitglieder und Freunde der Gemeinschaft, den Dankgottesdienst zum Gründungstag feiern darf. Ich weiß diese Einladung sehr zu schätzen. Wer einer Einladung folgt, kommt nicht mit leeren Händen. Ich habe beschlossen, Ihnen ein geistliches Wort zu schenken. Es knüpft an die 2. Lesung an, die ich bewusst ausgesucht habe.
Worte, die erschrecken, die beim ersten Hinhören gar nicht so recht in den Rahmen von Sant’Egidio passen wollen. Denn das ist nicht die Sprache der Liebe, nicht die Friedensbotschaft an die Feinde, die sich so sanft an unsere Ohren schmiegt und die wir aus der Bergpredigt schon auswendig kennen.
Stattdessen ein Ruf zu den Waffen: „… mit dem Panzer der Gerechtigkeit und die Füße beschuht mit der Bereitschaft für das Evangelium des Friedens. Vor allem greift zum Schild des Glaubens! Mit ihm könnt ihr alle feurigen Geschosse des Bösen auslöschen.“ (Eph 6,14-16) Wie Durchhalteparolen für müde Krieger klingt das. „Es soll nicht durch Heer (Macht) und Kraft, sondern allein durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr.“ So steht es beim Propheten Sacharja (4,6). Mein erster Reflex: Ich mag diese Sprache nicht. Sie stiftet nicht Frieden, sondern Hass. Sie führt nicht zusammen, sondern treibt auseinander.
Sowohl wissenschaftlich als auch praktisch ist es erwiesen: Die Religionen, auch das Christentum, erzählen nicht nur Friedensgeschichten; sie bergen auch ein Gewaltpotential: Kriege im Namen Gottes, „heilige Kriege“, „gerechte Kriege“ werden ausgerufen und dementsprechend geführt. Wer sich dabei auf Gott beruft, der lästert den Herrn. Er missbraucht den Namen dessen, der das Gebot aufgestellt hat: Du sollst nicht töten.
Doch Religionen haben nicht nur Gewaltpotential. Sie leben auch aus der Kraft, Mauern zu überwinden und Frieden zu stiften. Sant’Egidio ist dafür ein starkes Beispiel. Wer sich wirklich dem anderen öffnet, wer den anderen zu verstehen versucht und ihm nicht nur in die Augen, sondern tief ins Herz schaut, der wird verändert; und er ändert sich und die Welt.
Hören wir noch einmal in die Lesung hinein! Paulus schreibt: „Nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes. Hört nicht auf zu beten und zu flehen. Betet jederzeit im Geist!“ (Eph 6,17f.) Im Glauben feststehen: Das ist eine andere Rüstung, als wir sie kennen vom Militär und vom Krieg. Glauben heißt: mit Gott rechnen in dieser Welt, mit IHM rechnen in dieser delikaten Zeit, in der sich ein brutaler Angriffskrieg vor unserer Haustür abspielt.
Daraus ergibt sich unsere Mission: die Stimme erheben für die Armen und Schwachen, den Mächtigen und Gewalttätigen widersprechen, Zertrennung und Zerstörung nicht einfach hinnehmen. Dem Hass und der Vertreibung nicht das letzte Wort geben, sondern Brücken bauen, Flüchtlinge aufnehmen, Fremde willkommen heißen. Wir sind nicht schwach, wir sind gerüstet mit der Botschaft Jesu Christi. Wir sind bereit, den Mund freimütig aufzumachen. Gottes Wort ermächtigt uns aufzustehen, den Aufstand zu wagen gegen Krieg und Flucht, gegen Gewalt und Tod. Das praktizieren Sie seit Jahrzehnten in vielen Ländern und Städten der ganzen Welt. Auf den Punkt gebracht: Sant’Egidio ist für mich ein spirituelles Kraftwerk mit politischer Wirkung! Für die Zukunft wünsche ich Ihnen den langen Atem des Heiligen Geistes, der Ihrem Tun Elan und Kraft gibt.
Mein geistliches Wort soll nicht enden, ohne dass Papst Franziskus, ein Freund Ihrer Gemeinschaft, noch einen Gedanken beisteuert. Beim Friedenstreffen in Rom am 6./7. Oktober 2021, an dem auch unsere damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel teilnahm, sagte der Papst am Kolosseum: Hier und heute träumen wir gemeinsam von einer Geschwisterlichkeit unter den Völkern und der Zukunft der Erde. Dieses Amphitheater (Kolosseum) war vor langer Zeit ein Ort brutaler Massenunterhaltung: Kämpfe zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Tier. Ein Spektakel wie ein Bruderkrieg, ein tödliches Spiel mit dem Leben vieler Menschen. Mit dem Leben von Völkern und mit dem Leben von Kindern lässt sich nicht spielen. Aber auch heute erleben wir Gewalt und Krieg, Brüder und Schwestern, die einander töten, fast so, als wäre es ein Spiel, das wir aus der Ferne beobachten, gleichgültig und in der Überzeugung, dass es uns nie betreffen wird. Wir müssen aufhören, den Krieg aus der distanzierten Perspektive einer Reportage zu akzeptieren, und uns bemühen, ihn mit den Augen der Menschen zu sehen. Religionen sollen zur Stütze für die Leidenden, zu Anwälten der Unterdrückten werden, einen aktiven Beitrag leisten zur Entmilitarisierung des menschlichen Herzens leisten.“ Diese Worte aus dem Mund des Papstes klingen wie eine Prophetie für unsere heutige Situation.
„Man kann mit Gottes Wort nicht die Welt regieren“, meinen manche, um etwa der Bergpredigt ihre Spitze zu nehmen. Doch ich bin überzeugt: Gottes Wort kann Herzen regieren. Und von Seinem Wort regierte Herzen prägen die Welt anders. Dass dies möglich ist, zeigt Sant’Egidio: das spirituelle Kraftwerk mit politischer Wirkung. Sende aus deinen Geist, und das Antlitz der Erde wird neu!