"Heiliges Jahr der offenen Türen"
Seit Weihnachten steht sie offen. Der Papst hat sie aufgemacht: die Heilige Pforte im Petersdom. Weitere folgen: in seiner Bischofskirche San Giovanni in Laterano; in seiner Lieblingsbasilika, wo er einmal begraben sein möchte, Santa Maria Maggiore; und in der Kirche, die für wichtige auch ökumenische Ereignisse steht: die Basilika San Paolo, Sankt Paul vor den Mauern.
Vier heilige Pforten, die symbolisch darauf hindeuten, dass die Türen der Kirche offen sind. Das Heilige Jahr ist ein Jahr der offenen Türen. Heute Abend betreten wir eine Türschwelle: Zu Mitternacht überschreiten wir sie – vom alten in ein neues Jahr. Diesen letzten Gottesdienst im alten Jahr will ich dazu nutzen, um für Sie, liebe Schwestern und Brüder, vor unser geistiges Auge vier heilige Pforten zu stellen, die uns einladen, sie im neuen Jahr 2025 zu durchschreiten.
1. Die Tür zur Demut
Beginnen wir in Betlehem. Wer einmal Gelegenheit hatte, die Geburtsgrotte Jesu zu besuchen, weiß, wie klein man sich machen muss, um durch die Türöffnung hineinzugelangen. Der Mensch muss sich tief bücken, um ins Gotteshaus einzutreten. Wer das nicht tut, stößt sich den Kopf an und bekommt womöglich eine Beule.
Die kleine Tür in Betlehem verweist uns unmittelbar, aber auch symbolisch auf das Geheimnis der Pädagogik Gottes: Wie eine Erzieherin vor den kleinen Kindern kniet oder eine Grundschullehrerin sich vor die ABC-Schützen kauert, so hat Gott selbst sich gebückt. Er hat sich vor der Menschheit gleichsam verneigt, um bei uns anzukommen. Das ist Weihnachten, nicht nur im Kalender, sondern für den Kosmos. Das Alte Testament ist ja nichts anderes als eine Kette von Geschichten, die vom heruntergekommenen Gott erzählen. Vom Himmel her ist Gott heruntergekommen bis dahin, dass er nur noch als Mensch zu erkennen war. In Jesus von Nazareth treffen wir bis heute den bis in die armseligste Menschlichkeit heruntergekommenen Gott.
Immer kleiner ist er geworden, bis er uns begegnen konnte – nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe von Angesicht zu Angesicht. Um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, müssen auch wir uns bücken. Die kleine Tür in Betlehem ist dafür ein sprechendes Zeichen. Bemühen wir uns um Demut – nicht gespielte Demut, sondern um ehrlichen Mut zum Dienen. „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.“ So lautet ein Buchtitel des streitbaren französischen Bischofs Jacques Gaillot (+2023). Und die Bilder des Papstes sprechen eine ähnliche Sprache: Nicht aufrecht und erhaben, sondern im Rollstuhl sitzend hat er als erster die Schwelle der heiligen Pforte im Petersdom durchschritten. Ist das nicht ein Bild für die Kirche von heute? Schwach, hilfsbedürftig, arm?
2. Die Tür zur Menschlichkeit
Am 28. Oktober ist ein markanter Bischof gestorben, ein Meister des Wortes, einer, der nicht stromlinienförmig war: Franz Kamphaus. Von ihm stammt ein Ausspruch, der zum Slogan geworden ist: „Mach’s wie Gott! Werde Mensch!“ Bischof Kamphaus erzählte einmal, wie er zu diesem Gedanken gekommen ist: „Ein Schüler schrieb mir zu Weihnachten: ‚Sie wurden Bischof, Gott wurde Mensch. Versuchen Sie, den Spuren Gottes zu folgen.‘ Ich musste lange darüber nachdenken.“
So frage ich mich am Ende des Jahres: Bischof Bertram, bist Du menschlicher geworden im vergangenen Jahr? Kannst Du Dich auch in kleine und ausgegrenzte Menschen einfühlen, gehst Du auch an die Ränder – oder bist Du nur für den inner circle der Kirche da? An Weihnachten feiern wir die Menschwerdung Gottes. Wie sieht es – im Lichte dieser besonderen Menschwerdung - mit meiner eigenen Menschwerdung aus? Hat meine Seele einen Jahresring an Menschlichkeit dazu gewonnen? Bin ich als Mensch gewachsen? Diese Fragen helfen meiner Rückschau und den Vorsätzen fürs neue Jahr. Und sie greifen den Impuls der Lesung aus dem Römerbrief auf: „Zieht den Herrn Jesus Christus an!“ (Röm 13,14)
3. Die Tür zur Dankbarkeit
Am Ende des Jahres stellt diese Tür mir weitere Fragen: Bin ich dankbarer geworden? Dankbarkeit ist für mich zu einem spirituellen Schlüsselwort geworden. Doch Dankbarkeit ist nicht nur ein wunderschönes Gefühl; sie ist vor allem eine Haltung, die wir einüben können.
Ich gestehe offen und ehrlich: Meine Dankbarkeit ist ausbaufähig. Ich wäre gern ein dankbarer Mensch. Ich verspreche mir viel davon, die Haltung der Dankbarkeit weiter einzuüben – treu und nachhaltig. Es gibt einen einfachen Wortdreher:
Weil ich glücklich bin, bin ich dankbar. Weil ich dankbar bin, bin ich glücklich.
Weil ich glücklich bin, bin ich dankbar: Das ist normal. Weil ich dankbar bin, bin ich glücklich, das ist die Übungsrichtung für unser spirituelles Training. Mit dankbaren Augen durchs Leben gehen, auch die kleinen Freuden nicht übersehen, sich freuen! Oder besser im Blick haben, was wirklich wichtig ist im Leben, z. B. gute Freundschaften pflegen. Letztlich ist es ja das, was wir mit unseren Weihnachtsgeschenken machen wollen, Beziehungen würdigen, Danke sagen, Dankbarkeit pflegen.
4. Die Tür zum Gebet
Das klingt heute so verrückt wie vor 2000 Jahren, und doch ist es eine stets neue Einladung an jede und jeden von uns – diesem Gott, der uns erschaffen hat und jeden Winkel unseres Herzens kennt und uns dennoch unendlich liebt, zu trauen und ihm Raum zu geben in unserem Alltag, im zwischenmenschlichen Miteinander, in Einsamkeit und Trauer und Freude. Nicht nur mit ihm zu rechnen, sondern ihn wirken zu lassen, so wie es Paulus der Gemeinde in Philippi empfiehlt, weil er überzeugt ist: „Der Herr ist nahe. Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage“ – ja, wirklich in jeder Lage – „betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott!“ Gleichzeitig spricht er auch die Verheißung aus: „Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in Christus Jesus bewahren“ (Phil 4,5-7).
Gott zu suchen erscheint uns heute als eine zu große und - insgeheim wohl auch überflüssige - Anstrengung. Doch zu fragen, wo war Gott, als es mir schlecht ging, als sich die Naturkatastrophe oder der Unfall ereignete und die niederschmetternde Diagnose verkündet wurde, - das kommt uns im Leid ganz unwillkürlich über die Lippen!
Warum verbinden wir nicht beides? Suchen und Fragen liegen doch so nah beieinander: „Gott, wenn es Dich gibt, dann zeig Dich mir“, so betete die junge Madeleine Delbrêl (1904-1964), als ihr Verlobter sie verließ, und sie wurde nicht enttäuscht: „Indem ich betete, habe ich geglaubt, dass Er mich findet und dass er die lebendige Wahrheit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt. Diese Wahrheit habe ich umsonst empfangen. Ich schulde sie Gott (…) und ich schulde sie Menschen. Denn es waren Menschen, die mir geholfen haben, dieser Wahrheit zu begegnen,“ bekennt sie im Rückblick. Fortan lebte sie als gläubige Sozialarbeiterin in einem der problematischen Pariser Vororte unter Arbeiterfamilien, die sich als Atheisten verstanden. Bei ihrer Beerdigung sagte der kommunistische Bürgermeister: „Ich glaube auch jetzt nicht an Gott, aber wenn es ihn gibt, trägt er die Züge von Madeleine.“
Viele machen sich Gedanken darüber, wie die Kirche der Zukunft aussehen soll. Frauenfreundlich, demokratisch, synodal, partizipatorisch – so lauten Begriffe, die im Umlauf sind. Ich persönlich wage die Behauptung: Die Kirche der Zukunft wird wieder mehr eine betende sein. Könnte es zutreffen, dass wir zu wenig beten? Dass die Kirche im Blick auf das Beten auf Sparflamme zurückgeschaltet hat? Wie steht es um den Rhythmus des Stundengebets – auch in den Klöstern und bei uns Priestern? In einem Artikel habe ich erst kürzlich gelesen, dass wir in einer „gebetslosen“ Zeit leben. Das stimmt nachdenklich. Trifft das etwa auch auf die Kirche zu? Leben wir in einer „gebetslosen“ Kirche? Gott bewahre! Ich bin überzeugt: Die Kirche hat dann Zukunft und Ausstrahlung, wenn sie wieder mehr betet – die einzelnen und als Gemeinschaft.
Vier Türen habe ich heute vor Sie hingestellt. Doch eine habe ich vergessen. Papst Franziskus hat noch eine fünfte Tür geöffnet: Er tat es am Stefanustag in einem der größten Gefängnisse Italiens, Rebibbia in Rom; übrigens nicht im Rollstuhl, sondern stehend zu Fuß. Franziskus wollte den Inhaftierten eine Tür der Hoffnung öffnen. Das Gefängnis nannte er einen „Ort des Schmerzes und der Hoffnung“. In der aus dem Stegreif gehaltenen Predigt sagte er: „Das ist die Botschaft, die ich euch geben will – allen, auch mir selbst: Niemals die Hoffnung verlieren!“ Das gelte selbst in den schwierigsten Momenten, wenn man glaubt, es geht nicht weiter, es gibt keine Lösung: „Die Hoffnung enttäuscht nie, niemals. Es gibt immer etwas, wofür es sich lohnt, weiterzumachen.“ Weitermachen, nicht aufgeben, avanti!
Fünf Türen stehen offen für uns: die Tür zur Demut, die Tür zur Menschlichkeit, die Tür zur Dankbarkeit, die Tür zum Gebet und die Tür zur Hoffnung. Bitten wir den Herrn, dass diese Türen für uns zu heiligen Pforten werden. Dann wird 2025 ein Heiliges Jahr.