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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram am Hochfest des heiligen Ulrich

Leitung heißt Verantwortung

04.07.2025

Liebe Mitbrüder im bischöflichen, priesterlichen und diakonalen Dienst, liebe Verehrerinnen und Verehrer des heiligen Ulrich, liebe Schwestern und Brüder, die Worte, die der Diakon soeben verkündet hat, sind ein kostbares Vermächtnis dessen, der für uns, ja, für jede und jeden von uns, in den Tod gegangen ist– spüren wir, wie seine Worte, dass seine Erlösungstat in unserem Herzen nachzittern oder sind sie uns so geläufig geworden, dass wir diese einzigartige und bedingungslose Liebeserklärung gar nicht mehr hören?

Wie steht es um unsere Fähigkeit, sich vom Evangelium, dem Wort des lebendigen Gottes, ans Herz greifen zu lassen? Nehmen wir sie überhaupt noch ernst? Wollen wir wirklich Freundinnen und Freunde Jesu sein? Sind wir beglückt darüber, dass er uns erwählt hat, dass wir Anteil an seiner Vollmacht haben, dass der Vater uns alles geben wird, um was wir ihn in Jesu Namen bitten (vgl. Joh 15,16)? Unangenehme, ja vielleicht peinliche Fragen an einem Hochfest wie heute, wo wir nicht unbedingt dazu aufgelegt sind, eine ernste Gewissens­erforschung zu machen.

Ja, ich sage es offen: auch wir „berufsmäßig Frommen“, wir Kleriker, Priester und Diakone, sind in großer Gefahr, die Botschaft unseres ewigen Gottes als allzu bekannt zu hören und ihren immer neuen Anruf zu überhören. Es gehört viel Selbstdisziplin und bewusst geübte Ehrfurcht dazu, hier gegenzusteuern. Und doch, welch eine Chance zur menschlichen Reifung und zum geistlichen Wachstum liegt darin, wenn wir alle uns bemühen, jeden Gottesdienst als neue Einladung zu begreifen, sich hier und heute dem Angesicht Gottes, das uns in Jesus dem Menschensohn entgegenkommt, auszusetzen: sich von SEINEM Licht erfüllen, innerlich und äußerlich aufhellen zu lassen!

Der heilige Bischof Ulrich machte es uns vor: Er traute dem Wort Christi, der Prophezeiung der heiligen Wiborada von Sankt Gallen, die durch Gebet und Fasten fähig wurde, ihm an einem entscheidenden Kreuzpunkt seines jungen Lebens Wegweisung zu geben und ihn zu ermutigen, nach Jahren der Ausbildung in die Heimat zurückzukehren und in Dienst nehmen zu lassen. So erwarb er sich Kompetenz als Kämmerer, heute würde man sagen: Finanz­direktor des Bischofs Hiltine und wurde schließlich mit 33 Jahren selbst Episcopus, Oberhirte des Bistums Augsburg: „Non ministrari, sed ministrare - nicht um bedient zu werden, sondern um zu dienen“, wie es sein Herr und Meister Jesus Christus vorgelebt hatte.

„Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13). Diese Lebenshingabe sieht so unterschiedlich aus, wie wir Menschen, unsere Lebensumstände, die Zeit, in die wir hineingeboren sind, unterschiedlich ist!

Sie kann in letzter Konsequenz das Blutzeugnis, das Martyrium, bedeuten, wie bei Alfred Delp, Helmuth James von Moltke und Dietrich Bonhoeffer, die vor 80 Jahren kurz vor dem Ende der NS-Diktatur auf grausame Art hingerichtet wurden oder jahrelanges qualvolles Leben in Gefängnis und Arbeitslager, immer der Willkür und dem Sadismus des Aufsichtspersonals ausgesetzt, wie es so viele Christen, Kleriker und Laien in den Diktaturen weltweit bis heute erleben. Ebenso hingebungsvoll und nicht gering zu achten ist die im Glauben getragene Pflege von behinderten, alten und kranken Angehörigen, das Aushalten von Spannungen und Feindschaften im engen oder weiteren Familienkreis und die unerschütterliche Hoffnung auf einen Weg zu Versöhnung und Friede. Wie viele stille Helden und mehr noch Heldinnen des Alltags es gibt – wir erfahren es kaum, denn sie sind keine Schlagzeile wert.

Und doch sind sie es, auf die es ankommt, mehr als auf so manche Berühmtheit, wie eine jüdische Legende erzählt, die auf einen Vers beim Propheten Jesaja (30,18) zurückgeht, und nach der es 36 lebenden Gerechten, den verborgenen Heiligen, zu verdanken ist, dass die Welt noch nicht untergegangen ist.[1] Bei über 8 Milliarden Menschen auf der Erde – eine irrwitzig kleine Zahl. Aber die Legende will sagen: Es kommt auf jeden Einzelnen von uns an! Allerdings geht es dabei nicht um eine verkappte Form von Selbstoptimierung, die heute zu einer Massenbewegung und beinahe zu einem Religionsersatz in der westlichen Welt geworden ist. Nicht Egoismus und das Übertrumpfen von anderen stehen im Vordergrund, sondern die Verwirklichung des Lebensplanes, den Gott in jeden von uns gelegt hat: Mensch für Menschen zu sein!

So hat es ein Theologe und Arzt formuliert, dessen 150. Geburtstag wir dieses Jahr feiern - im Vergleich zum heiligen Ulrich, der vor mehr als 1.100 Jahren geboren wurde, zählt Albert Schweitzer noch zu unseren Zeitgenossen. Allerdings zeigt die Verhaltenheit, mit der medial und auch von kirchlicher Seite sein beeindruckendes Leben im Dienst des Mitmenschen besprochen und kommentiert wird, wie sehr dies erklärungsbedürftig, ja vielleicht sogar fragwürdig geworden ist; setzt es doch eine ungeheure Sensibilität und damit das Gegenteil von einer heute selbstverständlich erscheinenden Egozentrik voraus.

So bekennt der 90jährige im Rückblick, wenige Monate vor seinem Tod 1965: „Mich hat (…) seit meiner Jugend die Frage nach dem Recht auf Glück umgetrieben. Ich konnte es nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen im Blick auf das Weh, das um uns herum in der Welt herrscht. Als Student kam es mir völlig unfasslich vor, dass ich das Recht haben sollte, ein derart glückliches Leben zu führen, wenn ich all das Elend und das Leiden sah, mit dem sich andere Menschen herumschlagen mussten. Aus dem tiefsten Glücksgefühl erwuchs mir nach und nach das Verständnis für das Wort Jesu, dass wir unser Leben nicht für uns behalten dürfen. (…) An einem Sommermorgen während der Pfingstferien (…) fasste ich den Entschluss, bis zum 30. Lebensjahr Wissenschaft zu betreiben, um mich von dann an bis zum letzten Tag meines Lebens in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Gar viel hatte mich beschäftigt, welche Bedeutung die Worte Jesu ‚Wer sein Leben will behalten, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird es behalten.‘ für mich zukomme. Jetzt war sie gefunden.“[2]

Für den jungen Theologiestudenten hat das Wort Verantwortung noch seinen unmittelbaren spirituellen Sinn, der in jener Gott-Mensch-Beziehung wurzelt, wie sie uns das Buch Genesis schildert. Nach dem Sündenfall ruft „Gott, der HERR, nach dem Menschen und (spricht) zu ihm: Wo bist Du?“ (Gen 3,9). Adams und Evas Antworten sind ausweichend. Sie lügen zwar nicht, versuchen sich aber beide zu ent-schuldigen, indem sie andere beschuldigen. Wer fühlte sich hier nicht ertappt? Schon Kinder greifen zu diesem Trick, um nicht zur (ganzen) Verantwortung gezogen zu werden. Aufrichtigkeit, und erst recht gelebte „Nachfolge Christi“ sehen anders aus!

Vor 60 Jahren mahnte der große Menschenfreund aus dem Urwaldspital von Lambarene: „Keiner von uns darf ein Weh, für das die Verantwortung nicht zu tragen ist, geschehen lassen, soweit er es nur hindern kann. Keiner darf sich dabei beruhigen, dass er sich damit in Sachen mischen würde, die ihn nichts angehen. Keiner darf die Augen schließen und das Leiden, dessen Anblick er sich erspart, als nicht geschehend ansehen. Keiner mache sich die Last der Verantwortung leicht.“[3] Ist das nicht ganz in unsere Zeit gesprochen, in der viele von uns auf Fernsehnachrichten verzichten, um nicht sehen zu müssen, was ihr Gewissen unruhig macht?

Der heilige Bischof Ulrich wurde nicht ganz 90 Jahre alt, aber auch er blieb trotz körperlicher Beschwerden der Verantwortung treu, die von ihm gefordert war. Wieviel Leid hat er während seiner Pastoralreisen im Bistum, während der feindlichen Belagerungen und Angriffe auf die schwäbischen Städte mitangesehen. Er richtete die Verletzten auf und tröstete die Trauernden. Er gab denen, die alles verloren hatten, wieder das Nötigste zum Leben und: Er engagierte sich für eine dauerhafte Wende zum Frieden. Das neue Ulrichsfenster im Dom macht es deutlich: Weil sich der hl. Ulrich an Weihnachten 954 für den Frieden von Tussa/Illertissen einsetzte, fand ein knappes Jahr später auf dem Lechfeld die jahrzehntelange Auseinander­setzung ein endgültiges Ende und leitete die Epoche der friedlichen Nachbarschaft ein.

„Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage“ (Joh 15,14) – ergreifen wir die Freundeshand Jesu und vertrauen wir darauf, dass er uns nie verlässt, was auch geschieht!

[1] Vgl. Noemi Berger (2016): Sechsunddreißig Gerechte. Religiöse Begriffe aus dem Judentum. Unter: Sechsunddreißig Gerechte | Jüdische Allgemeine (26.06.2025)

[2] Zitiert nach Albert Schweitzer: Ehrfurcht vor dem Leben – Ethik der Hingabe aus Dankbarkeit und Liebe. Aus: 90. Rundbrief/2000; Hervorhebung im Original.

[3] Zitiert nach Albert Schweitzer (1988): Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. München: C. H. Beck.

Lesungen: Sir 4,1-4; 1 Joh 4,7-12.19-21; Joh 15,9-17