Priestersein in Umbruchszeiten: Treue und Lernbereitschaft
„Die Zeit meines Aufbruchs ist nahe. Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt. Der Herr stand mir zur Seite und gab mir Kraft.“ (2 Tim 4, 6-7.17) Das haben wir eben in der Lesung gehört. Diese Gedanken sind dem Apostel Paulus entliehen. Paulus wusste, als er das geschrieben hat, dass er bald sterben würde.
Und im Rückblick auf sein Leben beschönigt er nichts: Da gab es gute Episoden, Anerkennung und Lob, aber auch Spannung, Mühsal und Kampf. Doch Paulus ist nicht verbittert. Er rechnet nicht ab. Er legt alles in Gottes gute Hände.
So hat sich auch Prälat Georg Beis verhalten. Als ich um seinen 99. Geburtstag herum, den er am 13. September feiern konnte, etwas scherzhaft zu ihm sagte: „Nächstes Jahr steigt das große Fest, der 100!“, da hat er abgewunken – so als habe er es schon gespürt, dass die Zeit seines Aufbruchs nahe sei. Georg Beis sollte Recht behalten. Heute stehen wir um seinen Sarg. Voll Dankbarkeit feiern wir für ihn die Eucharistie. Wir nehmen von ihm Abschied an dem Altar, an dem er viele Jahre als Dompfarrer mit seiner Gemeinde die hl. Messe gefeiert hat.
Wenn ich auf die Begegnungen mit ihm zurückschaue, dann wage ich die Behauptung: Georg Beis war versöhnt. Vielleicht ist dieses Versöhnt-Sein mit allen Höhen und Tiefen der Grund, warum er bei einem Jubiläum, das er feierte, aus voller Dankbarkeit sagen konnte: „Unterm Strich war mein Weg positiv.“ Versöhnt! Denn Verbitterung ist kein guter Lebensbegleiter und noch weniger ein guter Sterbebegleiter. Davon war Georg Beis zutiefst überzeugt.
Mit seinem Tod sind das Bistum, die Dompfarrei und auch die Stadt Augsburg ärmer geworden. Da ist einer gegangen, der einfach dazugehörte und – solange er konnte - aktiv mitgemacht und in mehr als 72 Jahren als Priester an verschiedenen Stellen Generationen begleitet hat. Nach seinem Rückzug als Dompfarrer 1995 war er noch sechs Jahre lang in der Sorge um Priester im Ruhestand tätig. Bis vor wenigen Jahren zelebrierte er regelmäßig Gottesdienste in St. Margareth, ehe er diesen Dienst aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr tun konnte. Als er den Stab der Dompfarrei übergab, konnte Georg Beis sicher nicht ahnen, dass zwei seiner Nachfolger ihm im Tod vorausgehen sollten: Konrad Hölzl und Josef Heigl. Jetzt ist es umgekehrt: Den beiden Nachfolgern in der Dompfarrei folgt nun Georg Beis nach; wir hoffen in ewiger Gemeinschaft mit Christus. Wenn ich könnte, würde ich jetzt gern Mäuschen sein und zuhören, was sich die drei aus anderer Perspektive - sub specie aeternitatis - zu sagen haben. Es ist sicherlich ein angeregtes und engagiertes Gespräch, das die drei – hoffentlich - im Himmel führen. Und ich bitte Euch drei: Schaut gnädig auf uns, die wir an der Kirche bauen – in schwierigen Zeiten, geschüttelt von Krisen und Konflikten! Sendet uns hin und wieder einen herzlichen Gruß, ein Memento der Gelassenheit und Heiterkeit aus höherer Warte! Genau das brauchen wir heute. In ein paar Strichen will ich das Bild skizzieren, das Georg von der Kirche hatte.
1. Eine Kirche im Umbruch
In einem Artikel, den der verstorbene Journalist Alois Knoller (1958-2021) zum Diamantenen Priesterjubiläum im Sommer 2010 – als das Bistum Augsburg in einer tiefen Krise steckte – verfasste, lesen wir: „Mit einer Gänsehaut zelebrierte Georg Beis seine erste Messe auf Deutsch. Auf seiner zweiten Pfarrstelle hatte er allererste Kontakte mit evangelischen Christen. Auf der Synode der Deutschen Bistümer in Würzburg 1975 lernte er die andere Sichtweise von Frauen im Religiösen zu schätzen: Die 60 Priesterjahre von Prälat Georg Beis waren eine sehr spannende Zeit.“
Unser ehemaliger Dompfarrer und Augsburger Stadtdekan hat beides erlebt: hoffungsvolle Aufbrüche und tiefe Krisen in der katholischen Kirche. Vor allem die Jahre 1991/1992 forderten ihm viel ab. Er war damals Diözesanadministrator und musste die bischofslose Zeit zwischen den Bischöfen Stimpfle und Dammertz überbrücken – nicht als Vakuum, sondern mit Inhalt. Im Rückblick bekannte Georg Beis: „Es war für mich das Schlimmste. Es war gar keine Rede mehr davon, wie ein Bischof sein soll. Es ging nur noch um Macht und Einfluss.“ Prälat Beis bemühte sich, das aufgewühlte Bistum zu beruhigen und in der Einheit zu halten. „Die Progressiven ließen sich auch zu Korrekturen bewegen, die sog. Rechte dagegen war schlecht ins Gespräch einzubinden.“ So lautete das Fazit des einstigen Diözesanadministrators. Danke, lieber Georg, dass Du das Steuer der Kirche von Augsburg in einer langen Umbruchsphase gesteuert hast.
2. Eine Kirche im Aufbruch
Mündige Christinnen und Christen wollte Georg Beis in den ihm anvertrauten Pfarreien heranbilden. Besonders Frauen in der Kirche wollte er fördern und fordern. Als junger Pfarrer an seiner ersten Stelle in Unterthingau im Allgäu war er noch auf ein anderes Modell gestoßen: Jeder Katholik musste zum sog. „Seelenbeschrieb“ jährlich seinen Beichtzettel im Pfarrhaus abliefern. „Das habe ich nur einmal gemacht“, erzählte Georg Beis: einmal und nie wieder; das sei gegen die Freiheit des Gewissens der einzelnen Gläubigen gewesen. Drei Jahre blieb er bei den Allgäuern, dann ging er nach Göggingen, wo man dem „oberbayerischen Bauernpfarrer“ zunächst eher reserviert gegenüberstand. 1968 wechselte er dann an den Dom und ins Domkapitel, wo er gut 27 Jahre mit Freude und Elan gewirkt hat.
Wie in einem Brennglas lernte er in der Stadt Augsburg die vielen sozialen Probleme kennen, die Menschen treffen können: Obdachlosigkeit, Sucht, allein gelassene junge Mütter, Häftlinge, Einsame und Verzweifelte, die zum Telefonhörer greifen, Krankheit und Sterben. Als Dompfarrer und Stadtdekan baute er die ökumenische Telefonseelsorge auf, prägte die Krankenhauspastoral und kümmerte sich um die Wärmestube des SKM-Sozialverbandes. Georg Beis hat die Stadt mitgeprägt; er hat Augsburg gerade caritativ verändert.
Sein besonderer Augapfel war der katholische Frauenbund. Die weibliche Sicht- und Denkweise habe sein Priesterbild, seine Art zu glauben als Mann reifen lassen, sagte Georg Beis im Rückblick. Seine ruhige Art und sein gewinnender Charme, seine Empathie und auch sein sicheres Auftreten halfen ihm, zu einem Anwalt der Frauen im kirchlichen Leben zu avancieren. Wie sich Prälat Beis wohl in unseren heutigen Diskussionen um Weiheämter und Leitungsfunktionen für Frauen verhalten und abgestimmt hätte …?
3. Eine Kirche der Offenheit
Schließlich würde der Persönlichkeit von Prälat Beis etwas fehlen, wenn sein ökumenisches Engagement außen vor bliebe. Georg Beis war katholischer Vollblutpriester mit weitem ökumenischen Horizont. Sein geistlicher und menschlicher Erfahrungsschatz hat zahllose ökumenische Arbeitsgruppen auf städtischer, diözesaner und Bayernebene bereichert. Mit viel Geduld, einer beeindruckenden Fähigkeit zur Kommunikation und nicht zuletzt mit seinem feinen Sinn für Humor sowie einer unerschütterlichen Loyalität zu „seiner“ katholischen Kirche hat er sein Anliegen vertreten, dass die Einheit unter den Christen wachse. Er scheute sich nicht, Bande der Freundschaft auch über den katholischen Tellerrand hinaus zu knüpfen und Erinnerungen an schmerzhafte Verwundungen heilen zu helfen - gerade in konfessionsverschiedenen Ehen. Georg war davon überzeugt, dass es in der Ökumene vor allem auf die persönliche Beziehung ankommt. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Die Chemie muss stimmen. Oder im O-Ton von Georg Beis formuliert: „Wenn man sich menschlich kennt und im Glauben austauscht, dann werden konfessionelle Unterschiede viel kleiner.“ Ja, unserem verstorbenen Domdekan lagen besonders die menschliche und die geistliche Ökumene am Herzen. Dafür brannte er – ganz aus dem Geist Jesu Christi: „Ut unum sint!“ „Lass alle eins sein.“ (Joh 17,21) Gerade im Hinblick auf die Ökumene war Georg Beis ein Leben lang ein Lernender. Er war bereit zu lernen, sich und seine Positionen weiter zu entwickeln – stets in der Pflicht, dem Mutterboden des Glaubens treu zu bleiben.
In seinem Geistlichen Testament (2016) lässt uns Georg Beis noch eine andere Seite entdecken, die manche bei ihm vielleicht gar nicht so vermutet hätten: seine besondere Verehrung des Herzens Jesu. Diese Seite seiner Spiritualität hat er – wie er im Testament schreibt – von seiner Mutter geerbt. Ist es nicht eine gelungene Fügung Gottes, dass Georg Beis 27 Jahre als Seelsorger in der Herz-Jesu-Dompfarrei wirken durfte! Und ist es nicht eine noch größere Fügung, dass hier auch der zweite Apostel Deutschlands, der hl. Petrus Canisius, gepredigt und die Kinder im Katechismus unterrichtet hat – in einem Saal direkt über der Dompfarrsakristei, wo sich Prälat Beis auf den Gottesdienst vorbereitete und die liturgischen Gewänder anlegte! Petrus Canisius hat auf die Barmherzigkeit Gottes gesetzt und uns geraten, „unser Nest in den Wunden Christi“[1] zu bauen. Das eigene „Zuhause in den Wunden Christi“[2] errichten – dies scheint mir in die ‚spirituelle Herzkammer‘ des Phänomens Petrus Canisius zu führen.[3] Und es trifft wohl auch die Mitte der Spiritualität des Prälaten, Domdekans und Dompfarrers, nein: einfach des Menschen, Christen und Seelsorgers Georg Beis.
Werfen wir noch einen letzten Blick in sein Geistliches Testament! Dort steht: „Durch mein ganzes Priesterleben war mir mein Primizspruch, der mir in Gesprächen mit Freunden geschenkt wurde, Leitbild und Motivation für mein Dasein in der Begegnung mit allen Menschen. Er lautet: ‚Der Kirche Diener bin ich geworden, da Gott mir für euch das Amt verlieh, das Wort überallhin zu verkünden, das Geheimnis: Christus ist in euch.‘ (nach Kol 1,23)“
Und am Ende resümiert Georg Beis: „An allen Orten, wohin ich gesandt wurde (nur einmal habe ich mich beworben und zwar um die Pfarrei Unterthingau), bei allen Pfarrgemeinden und Gemeinschaften, denen ich dienen durfte, erlebte ich Offenheit und Vertrauen. Ich fühlte mich aufgehoben und verknüpft wie in einem Netz.“
Kann es ein schöneres Bild geben für die Kirche, für eine Gemeinde, auch für uns im Domkapitel: verbunden sein in einem Netz! Darin sehe ich das Vermächtnis, das uns Georg Beis hinterlässt: Knüpft weniger am Beziehungsnetz Eurer Karriere, knüpft vielmehr am Hoffnungsnetz der Kirche! Dieses Netz soll tragen. In dieses Netz dürft Ihr euch fallen lassen – im Vertrauen darauf, dass Ihr nicht fallengelassen seid.
[1] Eigene Paraphrase bzw. Übersetzung von Br II, 742.
[2] Übersetzung derselben Stelle bei Emonet, S. 158.
[3] Gerade in Pandemiezeiten scheint sich eine gewisse Renaissance der Herz-Jesu-Verehrung anzubahnen, vgl. dazu Józef Niewiadomski: Den Blick auf die Wunde wagen. Dieses Herz ist anders. In: Herderkorrespondenz 10/2020, S. 27-29.