Trauerfeier für Rabbiner Dr. Henry G. Brandt s. A.
Sehr verehrte, liebe Angehörige der Familie Brandt, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Weber, liebe Stadtratsmitglieder, verehrte Trauergäste, wie sich das für eine Enzyklopädie gehört, so beginnt bei Wikipedia der Eintrag zu unserem lieben Verstorbenen in aller gebotenen Kürze mit dem lapidaren Satz: „Henry G. Brandt – dann folgen die Lebensdaten – war ein deutscher Rabbiner.“
Ja, das war er mit aller Weisheit, allem Charisma und aller Herzenswärme, die ihm zu Gebote standen, und doch war er viel mehr, für Sie, liebe Familie, und für die allermeisten unter uns.
Niemand hat dem kleinen Heini, wie er in der Familie genannt wurde, in München an der Wiege gesungen, dass er mit elf Jahren seine Heimatstadt verlassen muss, um sein Leben zu retten, und während vieler Jahre in zwei weiteren Sprachen und drei Ländern heimisch werden sollte. Das Leben Henry G. Brandts war so bewegt wie das Jahrhundert, das er fast gänzlich durchschritt. Er wusste, was Krieg bedeutete, auch wenn er der Schoa entkommen war. Denn kaum erwachsen verteidigte er den jungen Staat Israel im Unabhängigkeitskrieg als Offizier. Im Anschluss daran entschied er sich jedoch gegen eine militärische Laufbahn und ging nach Belfast zum Studium der Wirtschaftswissenschaften. Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Marktanalytiker war Henry G. Brandt aktiv in der jüdischen Gemeinde und dort wuchs in ihm seine eigentliche Berufung: Der fast 30jährige Familienvater ließ sich am Leo Baeck College in London zum Rabbiner ausbilden. Als Seelsorger und Lehrer wurde er zum Segen für mehrere Generationen von Gemeindemitgliedern in England, Genf, Zürich, Göteborg und zahlreichen deutschen Städten.
2004 kam Rabbiner Brandt s. A. (= seligen Angedenkens) nach Augsburg in die hiesige Israelitische Kultusgemeinde und wir lernten uns im „interkonfessionellen Dialog“, wie er das christlich-jüdische Gespräch gern nannte, kennen und schätzen. Für mich, damals selbst erst kurze Zeit aus dem Vatikanischen Staatssekretariat in mein Heimatbistum zurückgekehrt, war der Austausch mit ihm, dem weitgereisten und im besten Sinne weltläufigen Menschen, sowohl theologisch wie zwischenmenschlich besonders kostbar. Er war klar in der Sache und besaß eine natürliche Autorität, die mich als den Jüngeren zu einem Lernenden werden ließ. In zahlreichen Podiumsdiskussionen, vor allem aber in den christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeiern im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit“ erlebte ich einen Menschen, dem sein Glaube zum Lebenselixier geworden war und der gerade deswegen keine Scheu hatte, auf Andersgläubige zuzugehen.
Besonders sein feinsinniger, nie verletzender Humor wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Vielleicht erinnern sich auch manche von Ihnen an die Eröffnung der Bibelausstellung im Reformationsgedenkjahr vor fünf Jahren, hier im Goldenen Saal. Wir hatten im ökumenisch besetzten Vorbereitungsteam der Ausstellung den Titel „Unser Buch“ gegeben, um damit die Bedeutung der Hl. Schrift für alle christlichen Konfessionen auszudrücken. An jenem Abend im März 2017 trat Rabbiner Brandt ans Rednerpult, nannte die Ausstellung beim Namen „Unser Buch“, machte eine Pause und wiederholte mit einem hintergründigen Lächeln, „unser Buch“ – Damit hatte er uns ganz ohne erhobenem Zeigefinger auf unseren blinden Fleck hingewiesen!
Rabbiner Brandt war ein unermüdlicher und unendlich dialogbereiter Vertreter des Judentums. Ihm ging es selbst in Streitfragen immer um die große Linie – und die Zukunft. Mit einem stupenden theologischen Wissen ausgestattet, war er stets zugewandt und voller Respekt für sein Gegenüber, ganz gleich, welchen gesellschaftlichen Rang es besaß. Gerechtigkeit und Frieden gehörten für ihn zu den zentralen biblischen Werten, die es galt, ins alltägliche Leben zu übersetzen.
Noch im letzten Jahr konnten wir uns bei zwei Veranstaltungen im Rahmen des Hohen Friedensfestes über Exodus 32: den Tanz um das goldene Kalb und das wunderbare Buch Ruth austauschen, leider nur im Online-Format. Doch im Oktober 2021 kam es dann während der 1. Jüdischen Kulturwoche Schwaben bei einem Bibelgespräch zu dritt, Regionalbischof Piper war mit dabei, zu einer letzten Live-Begegnung. Ich hatte damals den Eindruck, dass er unter Aufbietung all seiner physischen Kräfte noch einmal nach Augsburg kommen wollte, um der Stadt, die München so nahe ist und die ihm bis 2019 geistlich-seelsorgliche Wirkungsstätte war, ein letztes Lebewohl zu sagen.
Rabbiner Brandt hat hier Maßstäbe gesetzt, als Gemeinderabbiner und Universitätsdozent, als Zeitzeuge und indem er sich in die Stadtgesellschaft einbrachte. Seine Überzeugung, „Gedenken ist ein Imperativ“ gemäß dem hebräischen Leitwort: Zachor – Erinnere Dich!, lebt fort im Rabbiner Brandt Verein, der sich das „Brückenbauen für interreligiöse Verständigung“ auf die Fahnen geschrieben hat.
Ich persönlich bin sehr dankbar, in Henry G. Brandt einen Freund, ja einen älteren Bruder gehabt zu haben und wünsche ihm nun von Herzen, was eine Liedstrophe von Jörg Zink ausdrückt, die sich am Psalm 139 orientiert: „Und machst du einst ein Ende meinen Wegen, / so will ich mich in deine Arme legen. / Dann werde ich, nichts wird den Frieden stören, / dir ganz gehören.“ – Amen, so sei es.