Das Gottesgerücht: Seid Licht! In Freude von Gott gesandt!
Von Lothar Zenetti stammt der Aphorismus: „Gott ist schon lange tot“, wusste der junge Mann. „Seltsam“, wunderte sich der Pfarrer, „vor einer Stunde sprach ich noch mit ihm.“ Zwei verschiedene Welten treffen hier aufeinander: die Welt der Gottvergessenheit und die Welt einer intensiv gelebten und erspürten Nähe Gottes. Die beiden Welten zusammenzubinden, die Welt der Vielbeschäftigten, der religiös Vergesslichen in Berührung zu bringen mit der Welt Gottes, mit dem Evangelium, der Frohen Botschaft, die nicht Angst macht, sondern tröstet und ermutigt, das ist unsere Aufgabe. Und dabei habe ich besonders Sie, liebe Frauen und Männer, die Sie sich heute senden lassen wollen, im Blick.
Auf dem Frankfurter Flughafen ist mir einmal auf einem Bauzaun folgendes Werbeplakat ins Auge gestochen: „Damit für Sie der Himmel offenbleibt, haben wir auf Erden viel zu tun. Ihre Lufthansa.“ Das könnte auch ein Motto sein für uns, die wir uns auf je eigene Weise in den Dienst Jesu Christi nehmen lassen. Kann es nach der Pandemie, die uns Krankheit, Leid und Tod so nahegebracht hat, ein besseres Motto geben für alle, die sich Seelsorgende nennen: „Damit der Himmel offenbleibt, haben wir auf Erden viel zu tun. Ihre Kirche, Gottes Bodenpersonal.“ Den Menschen, denen wir begegnen, eine Berührung mit Gott ermöglichen, darum geht es. Dass Sie im pastoralen Dienst das Motto gewählt haben: „Sei Licht! In Freude von Gott gesandt!“, trifft den Nagel auf den Kopf.
Als eine Art ergänzendes Gegenstück habe ich deshalb die Stelle aus dem Buch Sacharja als Lesung für heute ausgesucht: „In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch.“ (8,23)
Der Text ist alt. Er stammt wohl aus der frühexilischen Zeit, um das Jahr 520 vor Christi Geburt. Dem von Gott erwählten Volk Israel geht es schlecht. Es ist zerstritten und zerrissen, auch das Restvolk Juda hat einen Durchhänger, es durchleidet eine hoffnungsarme Situation. Es lebt in der Diaspora, in der Zerstreuung. Für den frommen Israeliten bedeutet das eine schwere Belastung seines Glaubens an Jahwe. Habe ich mich täuschen lassen? Hat Gott sein Volk, das er sich zu seinem besonderen Erbteil erwählt hat, im Stich gelassen und damit dem Spott seiner Feinde ausgeliefert (vgl. Ex 19,5f)? In dieser depressiven Lage des Volkes beruft Jahwe den Propheten Sacharja mit dem Auftrag, nicht Trübsal zu blasen, die Zeit- und Glaubensgenossen nicht noch mehr in den Sumpf der Enttäuschung und des Zweifels absinken zu lassen, sondern sie herauszuholen ans Licht. Unser Thema heute ist gleichsam der Wahlspruch des Propheten: Sei Licht! In Freude von Gott gesandt!
Danke, dass Sie Licht sein wollen! Danke, dass sich in Freude von Gott gesandt wissen! Was heißt das konkret? Welche Folgen hat diese Mission für uns?
Zehn Männer aus Völkern aller Sprachen werden je eine Person aus Juda am Gewand fassen und festhalten. Dabei werden sie sagen: Wir wollen mit euch gehen. - „Am Gewand fassen“ ist mehr als auf Tuchfühlung gehen. Am Gewand fassen umschreibt den rechtssymbolischen Ausdruck für den Eintritt in ein persönliches Schutzverhältnis; man wurde dadurch ein kultberechtigter Jude (vgl. Jes 4,1; 1 Sam 15,27). Als Grund für diese Bewegung der Völker hin zum Gottesvolk wird ein „Gerücht“ angegeben, eine Kunde, die ganze Land erfasst: das Gerücht, dass Gott mit diesem Volk unterwegs ist. Beim ersten Auftritt Jesu in Galiläa wird die Rede von der Kunde, vom Gerücht, aufgegriffen: „Die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend.“ (Lk 4,14f) Mit Paul Michael Zulehner bezeichne ich diese Kunde fortan als „Gottesgerücht“.[1]
Dringen wir noch tiefer in den Text ein!
Auf der einen Seite wird den Völkern unterstellt, dass sie hinter Gott her sind, dass sie Gott suchen. Es gibt also einen Gottesbedarf, eine Sehnsucht nach IHM. Denn warum sonst sollten sie hinter einem Volk her sein, von dem es heißt, dass Gott mit ihm ist? Dabei ist es wichtig zu sehen, wie das Alte Testament zwischen Gott und Jahwe unterscheidet. Gott ist der Gott der Heiden, der „Religiösen“, die irgendwie an ein höheres Wesen glauben, es aber nicht personal fassen. Es ist jener Gott, an den z.B. die Männer von Ninive glaubten. Jahwe hingegen ist Gott, wie er sich seinem Volk offenbart hat – seit dem brennenden Dornbusch, persönlich, existentiell. Der Busch brennt, aber er verbrennt nicht. Gott ist nicht nur existent, irgendwie da, Gott ist fürsorglich, da für uns, mit uns unterwegs. Er ist ein „Fußgängergott“. Wir sind sein Volk.
Andererseits wird das Volk Juda und mit ihm die Kirche als ein Ort beschrieben, an dem sich die Gottessehnsucht der Völker festmachen kann. Umgekehrt soll das Volk, heute die Kirche, ein Raum sein, in dem der Immanuel, der „Gott mit uns“, lebendig erfahrbar wird. Ganz praktisch heißt das für uns in der Seelsorge: Die Leute folgen nicht so sehr der Kirche (da ist viel Porzellan zerbrochen!), aber sie sind hinter Gott her, von dem das Gerücht die Runde macht, das ER mit seinem Volk ist. Ausgangspunkt ist also der Gottesbedarf, das Gottesinteresse der Menschen, ihre Sehnsucht nach IHM und nicht so sehr die Selbstdarstellung, geschweige denn die Selbstzelebration der Kirche und ihrer Vertreter.
Gottesgerücht – weder Gottesgeschwätz noch Fake-News über Gott. Die Kunde von Gott hat eine Basis: die Heilige Schrift und die zweitausendjährige Tradition der Kirche, die nicht wie ein Papagei ständig dasselbe plappert, sondern das Wort Gottes je neu in die Zeit hineinspricht und ins Heute setzt. Das finde ich unheimlich spannend. Da gibt es Konstanten, die unveränderlich sind, und wir treffen auf Inhalte, die wir in die jeweilige Kultur einpflanzen und mit dem Heiligen Geist düngen müssen. Keine leichte Aufgabe, wie wir es gerade auf dem Synodalen Weg und anderen Reformprojekten erleben. Es darf Vielfalt geben in der katholischen Kirche, aber den richtigen Glauben absprechen sollten wir uns nie. Uns verbindet das gemeinsame Anliegen, das Gottesgerücht wachzuhalten. Gottesbedarf besteht, da bin ich mir sicher: Aber wie stillen wir dieses Bedürfnis? Ich bin froh, dass Sie, liebe Auszusendenden, Ihre Charismen ins Bistum, in die Gemeinden und pastoralen Felder mit Begeisterung einbringen wollen. Halten Sie das Gottesgerücht wach, und ich verspreche Ihnen: Es wird nicht langweilig.
Schon wenn wir an das Wort „Gerücht“ nur denken, steigt bei vielen der Adrenalinspiegel. Ob das im Dorf ist oder in der Stadt, im Freundeskreis oder auf den Gängen des Bischöflichen Ordinariates. Wenn irgendwo eine Gerüchteküche brodelt, spitzen wir unwillkürlich die Ohren. Wenn wir nicht müde werden, das Gerücht von einem lebendigen Gott in die Welt zu setzen und zu verbreiten, dann wecken wir die Neugier der Menschen, die Neugier auf Gott.
Ich bitte Sie, liebe Mitarbeitende: Bauen Sie in Ihrer Seelsorge auf das Buch der Bücher, die Bibel. In ihr hält sich hartnäckig das Gerücht, Gott neige sich uns zu wie ein gütiger, liebevoller Vater und ebenso wie eine zärtliche Mutter. In einer solchen göttlichen Liebe sind wir gut aufgehoben.
Gerüchteweise heißt es auch, dass dieser Gott sich total auf unser Menschsein eingelassen hat – in seinem eigenen Sohn Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch. Jesus, der Mann vom Rand, die Randexistenz aus Galiläa, ist an die Ränder gegangen, um Arme, Kranke und Schwache in die Mitte zu stellen. Um sich und seinem Programm treu zu bleiben, sei Jesus bis in den Tod gegangen. Er hat sich nicht nur aufs Kreuz legen lassen, er hat sich dort festnageln lassen.
Damit sind wir beim gewagtesten, ja abenteuerlichsten Gerücht über ihn. Bis heute ist es nicht totzukriegen: Jesus bleibt nicht im Grab. Der Stein kommt ins Rollen. Jesus lebt. Wer ihm folgt, kann damit rechnen, dass der eigene Tod nicht das Ende ist, kein Exitus aus der Welt, sondern ein Transitus in ein Leben ohne Grenzen. Das ist die Synthese des Gottesgerüchts, kein Gottesgeschwätz, kein leeres Palaver, sondern ein starkes Wort, die Kunde vom Licht. Deshalb ermutige ich Sie, jede und jeden ganz persönlich: Sei Licht! In Freude von Gott gesandt!
Am Ende noch eine Frage, durchaus selbstkritisch: Ich habe den Eindruck: In der Kirche fehlt etwas. Was ist das? Was geht uns ab? Das Geld fehlt uns – noch nicht. An hauptberuflichem Personal fehlen uns zwar Leute, das stimmt. Aber im Vergleich zu Kirchen in ärmeren Ländern sind wir ganz ordentlich aufgestellt. Wir können unser pastorales Personal bisher ja noch gut bezahlen. Zugegeben: Ehrenamtliche könnten es mehr sein, aber in unseren Gemeinden gibt es viele Engagierte, die keine Stunden zählen – Frauen und Männer, Kinder und Jugendliche, auf die wir bauen können. Doch das Eigentliche, was uns fehlt, sitzt tiefer: Vielen von uns fehlt der Glaube daran, dass wir in dieser schwierigen Zeit mit dem Evangelium noch „viel Staat machen können“. Ich möchte beruhigen: Wir brauchen keinen christlichen Gottesstaat. Aber das Gerücht vom Salz der Erde und Licht der Welt sollten wir wachhalten und ausbreiten. Ein anderes Wort dafür heißt Evangelisierung. Die Menschen brauchen Jesus, sie brauchen sein Wort. Ich bin froh, dass Sie das Gottesgerücht von heute an noch verbindlicher in der Kirche von Augsburg weitertragen wollen. Auf lange und vertrauensvolle Zusammenarbeit! Seid und bleibt Licht! In Freude von Gott gesandt!
[1] Vgl. sein Buch „Das Gottesgerücht. Bausteine für eine Kirche der Zukunft, Düsseldorf (Patmos) 1987.