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Wichtiges

Die Verantwortung Europas für die Würde des Menschen

08.02.2010

Das Recht auf Leben, wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist, gilt nicht für Föten und Embryonen. Das entschied soeben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Der entsprechende Artikel der Konvention schütze lediglich „Personen“ und nicht generell menschliche Wesen und sei folglich nicht auf ungeborenes Leben generell anwendbar. Die Tötung von Embryonen sei folglich in der Substanz keine Straftat.

Albert Einstein, der große Physiker und Philosoph und Nobelpreisträger, äußerte bereits früh in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts diese skeptische Einsicht: “Die Menschheit lebt heute, technisch gesehen, im Atomzeitalter, aber ethisch in der Steinzeit!“ Die Geschichte gibt ihm recht: Wohl kein Jahrhundert zuvor sah so drastisch, wohin der Weg einer entfesselten Politik ohne Wertmaßstäbe führen kann, als dieses zu Ende gegangene 20. Jahrhundert. Und gerade die geschichtliche Erfahrung unseres Landes zeigt überdeutlich, wie wesentlich es ist, sich an der Grenze zum Dritten Jahrtausend über die entscheidenden Verfassungsfragen der Politik Europas klar zu werden, die unsere Zukunftsfragen sind: Es ist das Thema und die Frage des Menschenbildes und Menschenwürde! Hier liegt die Wurzel und die entscheidende geistige Herausforderung der Zukunft Europas.

Gott, nicht der Mensch, ist der Grund der Menschenwürde

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – so lautet übereinstimmend der zentrale Grund-Satz der meisten europäischen Verfassung, der oft zitiert und eingefordert wird. Worin ist er begründet? Woher kommt jedem Menschen seine besondere Würde zu? Und weshalb darf sie nicht angetastet werden? Gerade jetzt, da wir um die Position des Gottesbezuges in der Präambel des neu entstehenden Europäischen Verfassungsvertrages ringen, steht die Frage erneut im Vordergrund: Was in aller Welt macht die Würde des Menschen letztlich unantastbar? Und was ist das für ein Bild vom Menschen und seiner Würde, das Europa im innersten prägt und zusammenhält? Unsere Antwort auf der Basis der christlich-abendländischen Kultur Europas lautet: Gottes Würdigung begründet die Menschenwürde und macht sie unantastbar. Wenn Menschenwürde nur auf einer Absprache beruhte, auf einer Art Gesellschaftsvertrag, dann wäre es schlecht um sie bestellt. Denn Verträge sind kündbar, selbst solche, die Menschenrechte und Menschenwürde betreffen. Das haben wir in der Geschichte deutlich zu spüren bekommen. Wir brauchen gar nicht so weit zurückzugehen in der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, denn die Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen des Dritten Reiches sind uns noch nicht so fern. Tagtäglich finden solche Vertragsbrüche offen und versteckt statt, auch bei uns, und nicht nur irgendwo auf der Welt.

Der Verrat der Menschenwürde geschieht heute gerade dort, wo Wissenschaftler – von der Vorstellung totaler Machbarkeit und vom Traum des perfekten Menschen geblendet – die menschliche Existenz und das menschliche Leben selbst konstruieren wollen, wo Gentechnik und moderne Biomedizin den Respekt vor dem Lebensrecht jedes einzelnen Menschen zusehends verlieren, wo die Lebensmöglichkeit des ungeborenen Menschen ebenso wie die des behinderten und des alten Menschen am Ende des Lebens in Frage gestellt werden. Ist denn der moderne Mensch nun selbst der Herr des Lebens? Und wer kann angesichts solcher Selbstverständnisse das nur scheinbar noch Selbstverständliche garantieren, dass die Würde des Menschen für den Menschen unantastbar ist?

Das christliche Erbe – die Quelle der Hoffnung für Europa

Am 28. Juni 2003 hat Papst Johannes Paul II. das Apostolische Schreiben "Ecclesia in Europa" veröffentlicht. Erstes Ziel ist es, vor allem für die Hoffnung Zeugnis zu geben, deren Quelle Jesus Christus selbst ist. "Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt – er ist die Quelle der Hoffnung für Europa" so lautet der Satz, im Zentrum des Dokumentes steht. Doch sieht der Heilige Vater die Probleme des Christentums in Europa in aller Deutlichkeit:

„Trübung der Hoffnung: Der Verlust des christlichen Erbes“

Seine nüchternen Situationsanalyse der Kirche und des Christlichen in Europa weiß um die allenthalben spürbare „Trübung der Hoffnung“: Trotz all den vielen überzeugenden Zeugnissen christlichen Glaubens gibt es auch eine weit verbreitete Gottvergessenheit und religiöse Gleichgültigkeit. Dem hohen Gut der Freiheit der Menschen, der Achtung der Menschenrechte und der hohen Lebensqualität steht eine um sich greifende Zukunftsangst, eine weit verbreitete „Zersplitterung des Daseins“ und eine zunehmende Schwächung der Solidarität gegenüber. Der europäische Einigungsprozess hat zwar zu großen Fortschritten in der Versöhnung zwischen den Nationen geführt, zugleich aber wird seine geistige, biblisch-christliche Verwurzelung von vielen Europäern ausgeblendet.
Vor allem ein Punkt ist es, der den Papst mit größter Sorge erfüllt: „Unter den vielen Aspekten – sagt er wörtlich – möchte ich den Verlust des christlichen Gedächtnisses und Erbes anführen, der begleitet ist von einer Art praktischem Agnostizismus und religiöser Gleichgültigkeit, weshalb viele Europäer den Eindruck erwecken, als lebten sie ohne geistigen Hintergrund und wie Erben, welche die ihnen von der Geschichte übergebene Erbschaft verschleudert haben. Daher ist es nicht allzu verwunderlich, wenn versucht wird, Europa ein Gesicht zu geben, indem man unter Ausschluss seines religiösen Erbes und besonders seiner tief christlichen Seele das Fundament legt für die Rechte der Völker, die Europa bilden, ohne sie auf den Stamm aufzupfropfen, der vom Lebenssaft des Christentums durchströmt wird.“ (Ecclesia in Europa, 7)

„Die Würde der Person als Quelle unveräußerlicher Menschenrechte“

„Das Interesse, das die Kirche für Europa hegt, erwächst aus ihrer eigenen Natur und Sendung. Jahrhundertelang hatte die Kirche nämlich sehr enge Bindungen zu unserem Kontinent, so dass das geistige Antlitz Europas dank der Mühen großer Missionare, durch das Zeugnis der Heiligen und der Märtyrer und durch das beharrliche Wirken von Mönchen, Ordensleuten und Seelsorgern geformt worden ist. Aus der biblischen Auffassung vom Menschen hat Europa das Beste seiner humanistischen Kultur entnommen, Inspirationen für seine geistigen und künstlerischen Schöpfungen gewonnen, Rechtsnormen erarbeitet und nicht zuletzt die Würde der Person als Quelle unveräußerlicher Rechte gefördert. Auf diese Weise hat die Kirche als Hüterin des Evangeliums zur Verbreitung und Konsolidierung jener Werte beigetragen, die die europäische Kultur zu einer Weltkultur gemacht haben.“ (Ecclesia in Europa, 25)

Die ganze abendländische Kultur wurde ohne Frage von diesem Denken her bestimmt und bis in die aktuelle Neuzeit hinein inspiriert. Gerade bei uns im Allgäu und im Bodenseeraum bietet sich reiches Anschauungsmaterial: Die Klöster haben sich seit der Christianisierung Germaniens nie auf rein religiöse Aufgaben beschränkt, sondern den Aufbau und die Pflege der Kultur als ihre ureigenste Aufgabe, als einen entscheidenden Teil ihrer Weltverantwortung erkannt und umgesetzt. Europa wäre niemals, was es ist, ohne diese christlich-abendländische Kulturarbeit, die durch die Kirche in die Welt gebracht wurde. Das unveräußerliche Menschenrecht auf Leben, das Recht auf Freiheit, der Stellenwert der Familie in der Gesellschaft, und die Bedeutung der Solidarität der Völker in der Globalen Welt – all das gäbe es nicht ohne diese Kultur- und Geistesarbeit im Licht des Christentums. Darum schließt der Papst: „All dessen eingedenk, verspürt die Kirche heute mit neuer Verantwortung die Dringlichkeit, dieses kostbare Erbe nicht zu vergeuden und Europa durch die Wiederbelebung der christlichen Wurzeln, in denen es seinen Ursprung hat, bei seinem Aufbau zu helfen.“

Wenn ich Sie heute frage: Was ist für Sie das bedeutendste politische Erbe des zurückliegenden 20. Jahrhunderts, das wohl als das Jahrhundert der bisher größten, massenhaften Menschenrechtsverletzungen und zweier unseliger Weltkriege in die Geschichte eingehen wird? – Ich würde für mich antworten: Es ist die allgemeine Erklärung der Menschenrechte für alle Menschen und Völker der Erde, die berühmte UNO Charta des Jahres 1948. Solch wundervolle und ermutigende Sätze finden sich in dieser Erklärung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren und bleiben es.“ – „Niemand darf wegen seiner Rasse, seiner Hautfarbe, seines Geschlechts oder seiner Gewissensüberzeugung diskriminiert werden.“
Berührt es einen da nicht schon wieder seltsam und bedrohlich, wenn der bekannte deutsche Verfassungsjurist Wolfgang Heidelmeyer skeptisch anmerkt: „Die Menschenrechte entstanden unter dem Eindruck der Inhumanität und der Menschenrechtsverletzungen des Zweiten Weltkrieges und des Dritten Reiches. Müssten wir sie heute noch einmal erkämpfen, wir würden sie nicht mehr bekommen.“
Das ethische Fundament der Politik – „Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er sich nicht selber setzt“

Das politische Programm Europas und die Werte der Demokratie werden ihre Kraft verlieren, wenn man sie von ihren religiösen Ursprüngen abschneidet. Das muss gerade jetzt und gerade auch in Hinblick auf die aktuelle Entstehung der Europäischen Verfassung gesagt werden. Ohne den Himmel über uns verlieren wir den Boden unter uns. Wenn uns Gott nicht mehr würdigt, wer denn dann? Was bleibt dann noch von unserer Würde? Ist sie ein Produkt der Entwicklung, der Umwelt, der Verhältnisse? Wer die Umwelt und die Verhältnisse manipulieren kann, wird dann auch den Menschen und seine Würde manipulieren. Dann ist es aus mit der Unantastbarkeit der Würde der menschlichen Person. Dann wird angetastet, vor und nach der Geburt, und bis zur Euthanasie am Lebensende, auch rücksichtslos auf Kosten der Schwachen und Behinderten, was unantastbar ist: Die Würde des Menschen. Dann wäre der Weg offen für die, die über Leichen gehen.

Die wesentlichen Ideen der Menschheitsgeschichte entstehen und bewegen sich niemals im „luftleeren Raum.“ Es war die Kultur des christlichen Abendlandes, das Menschenbild des Evangeliums, das die unantastbare Würde der menschlichen Person begründete! Auch wenn man immer wieder Defizite im Leben der Christen beklagen, kirchliches Handeln kritisieren, die konkrete Unzulänglichkeit von Amtsträgern bemängeln kann, eines bleibt bei aller Kritik vorrangig: Die unerschütterliche Position und das Eintreten der Kirche für die Verteidigung der unveräußerlichen Würde und der Unverletzlichkeit der menschlichen Person. Eben darum, weil wir auf jedem menschlichen Gesicht das Antlitz Jesu Christi selbst erkennen, und weil wir darum jeden einzelnen Menschen auf dieser Erde als Ebenbild Gottes in seiner Würde schätzen. Wenn es uns in der kirchlichen Verkündigung gelänge, gerade im Zeitalter hier und da bereits wieder aufflammender rassistischer Gefühle und Aktionen, in den Köpfen junger Leute ein solches Menschenbild von der unantastbaren Würde jedes menschlichen Lebens einzupflanzen, welcher Segen wäre das für die Gesellschaft, für den Bestand der Demokratie und vor allem für die Glaubwürdigkeit einer christlich-abendländischen Kultur in Europa.

Insofern wünsche ich den Christen Europas heute einen klaren Blick für unsere Wurzeln, für die Würde und Rechte jedes Menschen, so wie sie zwar in den Verfassungen für alle Zeiten niedergeschrieben sind, aber dennoch Tag für Tag durch unser Leben eingelöst, bestärkt und begründet werden müssen. Denn gerade für die Politik gilt das berühmte Wort, das der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde – der dieses Jahr mit dem renommierten Romano Guardini Preis der Katholischen Akademie in Bayern ausgezeichnet werden wird – einmal geprägt hat: „Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er sich nicht selber setzt.“

Der Weg Europas von der Wirtschafts- zur Währungs- zur Wertegemeinschaft: Anerkennung des religiösen Erbes

Angesichts dieser Zeitdiagnose macht der Heilige Vater immer wieder eindrucksvoll deutlich, dass Europa nicht nur eine politische und wirtschaftliche Einheit ist, sondern wesentlich ein Kontinent von ethischer und spiritueller Dimension und einer gemeinsamen geistigen Kultur. Und er erinnert nachdrücklich daran, dass "der christliche Glaube tiefgreifend und maßgebend zu den Fundamenten der europäischen Kultur gehört." Der Glaube an Jesus Christus ist "eine Gabe, die der geistigen und kulturellen Einheit der europäischen Völker zugrunde liegt und die noch heute und in Zukunft einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Entwicklung und Integration darstellen kann."

Europa befindet sich derzeit im Um- und Aufbau. In dieser Phase der Neugestaltung ruft der Papst Europa dazu auf, seine wahre Identität wiederzuerlangen: Europa muss ein "neues Modell der Einheit in der Vielfalt aufbauen". Dazu kann die Kirche einen wichtigen Beitrag leisten, da sie selbst immer schon "ein Modell wesenhafter Einheit in der Verschiedenheit der kulturellen Ausdrucksformen" ist. Die Einheit Europas darf sich aber nicht allein auf politischen und ökonomischen Pragmatismus beschränken. Vielmehr muss die Europäische Union die grundlegenden Werte realisieren, zu denen das Christentum einen entscheidenden Beitrag geleistet hat: die transzendente Würde der menschlichen Person, den Wert der Vernunft, der Freiheit, der Demokratie, des Rechtsstaats und der Unterscheidung zwischen Politik und Religion. Nur so kann aus der Wertekrise, in der Europa steckt, „neuer Schwung“ folgen, der den Bürgern Anlass zur Hoffnung gibt.

„Die Europäische Union setzt ihre Erweiterung fort. Daran über kurz oder lang teilzunehmen, sind alle Völker berufen, die dasselbe grundlegende Erbe teilen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Ausweitung in einer allen gegenüber respektvollen Weise erfolgt: nicht nur durch eine ausgereiftere Durchführung des Subsidiaritäts- und des Solidaritätsprinzips, sondern auch durch die Erschließung und Aufwertung der historischen und kulturellen Eigenarten, der nationalen Identitäten und des Reichtums der Beiträge, die von den neuen Mitgliedern kommen können. Im Integrationsprozess des Kontinents ist es von grundlegender Bedeutung zu berücksichtigen, dass die Union keinen festen Bestand haben wird, wenn sie nur auf geographische und ökonomische Dimensionen beschränkt bliebe; vielmehr muss sie vor allem in einer Übereinstimmung der Werte bestehen, die im Recht und im Leben ihren Ausdruck finden.“ (Ecclesia in Europa 110)

Das christliche Erbe ist die geistige Wurzel Europas, die letztlich die unantastbare Würde des Menschen begründet und eine gute Zukunft für alle Europäer sichert.