Das soziale Erbe Papst Johannes Pauls II. (+ 2005)
Das Jahr 1989 leitete in Europa einen dramatischen Umbruch ungeheuren Ausmaßes ein. Innerhalb kürzester Zeit brach das kommunistische Sowjetimperium und sein marxistisch-leninistisches Ideologiegebäude in sich zusammen. Die sozialistischen Ostblockstaaten emanzipierten sich von einem politisch, ökonomisch und kulturell repressiven System. Der Name und das Anliegen der Gewerkschaftsbewegung Solidarnoc in Polen stehen für diese neue Idee, die zur größten Systemveränderung dieses Jahrhunderts führte und ohne Zweifel an historischer Bedeutung dem Ereignis der Französischen Revolution gleichkommt.
Der Fall der Berliner Mauer in Deutschland wurde geradezu zum Symbol eines großen Umbruchs in Mitteleuropa. Die erklärten und erstrebten Ziele dieser erstaunlich "friedlichen Revolution" waren bürgerlich-demokratische Freiheitsrechte einerseits und die soziale Marktwirtschaft nach westlichem Muster andererseits.Ohne Zweifel ist es heute eine der interessantesten Fragen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, welches die Ursachen dieses historischen Zusammenbruchs waren. Der Papst aus dem Heimatland der Solidarnoc-Bewegung, Johannes Paul II., der in diesem Umwälzungsprozess eine bedeutende inspirative Rolle spielte, gibt in seiner Enzyklika "Centesimus annus" (1991), die auf eine mehr als hundertjährigen analytischen Erfahrung der Kirche mit sozialethischen Problemlagen reflektiert, zwei plausible Gründe an: (1) "Der entscheidende Faktor, der den Wandel in Gang gebracht hat, ist zweifellos die Verletzung der Würde der Arbeit. ... Es sind die Massen der Arbeiter, die der Ideologie, die angeblich in ihrem Namen spricht, die Legitimation entziehen."[1] In logischem Zusammenhang dazu steht der zweite Grund: (2) "Die zweite Ursache der Krise ist zweifellos die Untauglichkeit des Wirtschaftssystems. Hier geht es nicht bloß um ein technisches Problem, sondern vielmehr um die Folgen der Verletzung der menschlichen Rechte auf wirtschaftliche Initiative, auf Eigentum und auf Freiheit im Bereich der Wirtschaft."[2] Der ökonomische und politische Verrat des Systems am arbeitenden Menschen und die Marginalisierung menschlicher Arbeit – das sind die wesentlichen Eckpunkte der Analyse des Zusammenbruchs. Die Analyse enthält einerseits ein klares anthropologisches Kriterium: Sie beruft sich auf die Würde und Rechte des Menschen und auf die Arbeit als Ausdruck seiner personalen Selbstverwirklichung. Und sie enthält andererseits ein evidentes ökonomisches Kriterium: Wenn wirtschaftliche Strukturen so gestaltet sind, dass sie die soziale, kulturelle und humane Entfaltung der Menschen in einer Gesellschaft verhindern oder gar verunmöglichen, dann verfehlt die Wirtschaftsordnung ihr grundlegendes Ziel. Denn der Mensch ist evident der Schlüsselfaktor der Wirtschaft und die Gestaltung der ökonomischen Strukturen ist von entscheidender Bedeutung für die humane Qualität einer Gesellschaftsordnung.
1. Die anthropologische Zentrierung der Ökonomie
"Der Mensch ist Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft"[3]
Die klassische ökonomische Theorie unterschied traditionell drei Produktionsfaktoren, die als die wesentlichen Elemente des wirtschaftlichen Produktionsprozesses bei der Produktion von Gütern und der Erstellung von Dienstleistungen angesehen wurden: Arbeit, Kapital und Boden. Centesimus annus reduziert zwar die klassische Zahl der Faktoren auf ihre zwei ursprünglichen Dimensionen: die Arbeit und die Erde, weist aber gleichzeitig auf eine wesentliche Gewichtverschiebung hin, welche die menschliche Arbeit als einen Schlüsselfaktor in den Mittelpunkt stellt. "In der Geschichte finden sich am Beginn jeder menschlichen Gesellschaft stets die beiden Faktoren, die Arbeit und die Erde. Nicht immer aber stehen sie im selben Verhältnis zueinander. Früher erschien die natürliche Fruchtbarkeit der Erde als der Hauptfaktor des Reichtums, was sie auch tatsächlich war, während die Arbeit eine Art Hilfe und Unterstützung dieser Fruchtbarkeit war. Heute aber wird die menschliche Arbeit als Produktionsfaktor der geistigen und materiellen Reichtümer immer wichtiger."[4] Unter den modernen arbeitsteiligen Produktionsbedingungen der Industriegesellschaft, vor allem aber angesichts der ökonomischen Sektorverschiebung von der Produktion zur Dienstleistung und des rapiden Wandels moderner Industriegesellschaften zu Dienstleistungsgesellschaften wird die steigende Bedeutung des Faktors Arbeit immer entscheidender. "Die wichtigste Ressource des Menschen ist in der Tat, zusammen mit der Erde, der Mensch selbst"[5] betont die Enzyklika. Es geht um menschlichen Erfindungsreichtum, Kreativität und Innovation, die wirtschaftliches Tun fruchtbar machen. Zugleich tritt die Bedeutung der wirtschaftlichen Initiative des Unternehmertums in den Mittelpunkt. Im Sinne der Theorie Josef Schumpeters denkt man an die Definition der Aufgabe eines "dynamischen Unternehmers," die in der "stetigen kreativen Neukombination der Faktoren" besteht. Unter marktwirtschaftlichen Konkurrenzbedingungen wird dabei selbst der "Prozess schöpferischer Zerstörung"[6] einkalkuliert und in Kauf genommen. Dieser Gedanke verbindet sich mit der genialen Idee Adam Smith´s, der in seinem berühmten Buch die Quelle des "Reichtums der Nationen" in dem kreativen wirtschaftlichen Wettbewerb und der Konkurrenz der Individuen erkennt. Unternehmerische Initiative und schöpferische menschliche Arbeit erreichen in modernen sozial-marktwirtschaftlichen Systemen – und nach langer geschichtlicher Erfahrung nur dort – wesentliche Bedeutung, den nötigen Entfaltungsspielraum und die erwartete Effizienz. In diesem Sinne ist die Schlussfolgerung in Centesimus annus richtig: "Aber besonders in der heutigen Zeit gibt es noch eine andere Form von Eigentum, der keine geringere Bedeutung als dem Besitz der Erde zukommt: Es ist der Besitz von Wissen, von Technik und von Können. Der Reichtum der Industrienationen beruht zu einem viel größeren Teil auf dieser Art des Eigentums als auf dem der natürlichen Ressourcen."[7] In den Bereich der modernen Ökonomie übertragen bedeutet dies eine notwendige anthropologisch-induzierte Umgewichtung der Verhältnisse, an der sich die moderne Industriegesellschaft insgesamt orientieren muss. Die Frage nach der anthropologischen Relevanz wirtschaftlichen Handelns wird ein entscheidendes Kriterium und eine Herausforderung in der wissenschaftlichen Volks- und Betriebswirtschaftslehre, in der praktischen Arbeitsorganisation der Unternehmen, in der konkreten Unternehmensführung und nicht zuletzt in der Reflexion wirtschaftsethischer Fragestellungen. "War früher der entscheidende Produktionsfaktor die Erde und später das Kapital, verstanden als Gesamtbestand an Maschinen und Produktionsmitteln, so ist heute der entscheidende Faktor immer mehr der Mensch selbst, das heißt seine Erkenntnisfähigkeit in Form wissenschaftlicher Einsicht, seine Fähigkeit, Organisation in Solidarität zu erstellen, und sein Vermögen, das Bedürfnis des anderen wahrzunehmen und zu befriedigen."[8] Es sind ja immer Menschen, die arbeiten, Pläne realisieren, Ideen umsetzen, Geld verdienen. Maschinen arbeiten nicht, sie funktionieren. Darum geht es bei der Frage nach der Bedeutung und dem Wert menschlicher Arbeit mehr als nur um einen Produktionsfaktor. Es geht evident um den Wert des Menschen selbst, um die Menschenwürde, um die Integrität der menschlichen Person. Und es geht zugleich um den gravierenden Wandel in der Arbeitswelt, der sich heute bereits abzeichnet und sich zukünftig dynamisieren wird, um neue Einstellungen zur Arbeit, veränderte Erwartungen an die Mitarbeiter, an die Unternehmenskultur, an die Organisations- und Führungsstrukturen in den Betrieben.
2. Das Ziel der Wirtschaft
Nicht Nutzenmaximierung, sondern der Dienst am Menschen
In der neueren wirtschaftswissenschaftlichen Forschung kann man – ausgehend von den USA und inzwischen mit beachtlicher Breitenwirkung in Europa - eine Renaissance der Wirtschaftsethik beobachten. Namhafte Wirtschaftswissenschaftler konzentrieren sich aktuell verstärkt auf die Analyse von Wirtschaftsordnungsmodellen und realisierten Wirtschaftsordnungen in Hinblick auf ihre ethischen Wertgrundlagen und fragen nach integrativen anthropologisch-ethisch motivierten Zusammenhängen ökonomischer Prozesse. Diese Renaissancebewegung hat sich nicht nur in einer Reihe beachteter Monographien und Sammelwerken zu den theoretischen Grundlagen der Wirtschaftsethik niedergeschlagen, sondern auch in einer Reihe von Aufsätzen zu den ethischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft und zum Gehalt an Gerechtigkeit, den marktwirtschaftliche Ordnungen aufweisen.[9]
Trotz der vielfältigen Ansätze in der modernen wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, die eine ethische Fundierung der Ökonomie anstreben und die Integration anthropologischer, sozialer und kultureller Momente in Zielbestimmung ökonomischen Handelns betreiben, ist diese Renaissancebewegung nicht unumstritten. Gerade aus dem neoliberalen, streng im Sinne des Rationalprinzips argumentierenden Lager von Ökonomen, kommen immer neue Ansätze, die wirtschaftliches Tun strikt und ausschließlich auf das formale, eindimensionale Kriterium der Nutzenmaximierung auf der Basis ökonomischer Rationalität zu reduzieren beabsichtigen.
In diesem Sinne war die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1992 an den amerikanischen Ökonomen Gary S. Becker, der lange Zeit an der Universität von Chicago Wirtschaftswissenschaften lehrte, dazu angetan, über die engeren Wirtschaftsfachkreise hinaus ein gewisses Erstaunen zu erregen.[10] Anlass zu diesem Erstaunen gab die Begründung der Stockholmer Jury, Becker habe den Preis erhalten "für seine Verdienste um die Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf einen breiten Bereich menschlichen Verhaltens." In der Tat geht Beckers Forschungsansatz von der Grundannahme aus, dass sich das Verhalten der Menschen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen nach den gleichen, letztlich nur ökonomisch erklärbaren Grundsätzen richte. Diese Grundsätze, sozusagen die atomaren Elementarstrukturen menschlicher Verhaltensmuster lassen sich in ihren wesentlichen Gehalten zusammenfassen und zurückführen auf das, was Becker den "ökonomischen Ansatz"[11] nennt. Einzelpersonen, Haushalte, Unternehmen und alle übrigen Organe und Einheiten der Gesellschaft verhalten sich stets und in allen Lebenslagen rational und zweckorientiert, agieren – in der Terminologie des Ökonomen ausgedrückt – nutzenmaximierend.
In seiner Publikation "The Economic Approach to Human Behavior" stellt Becker die wesentlichen Grundzüge seiner Theorie des "ökonomischen Ansatzes" heraus, die in der zentralen These gipfeln: "Ich behaupte, dass der ökonomische Ansatz einen wertvollen, einheitlichen Bezugsrahmen für das Verständnis allen menschlichen Verhaltens bietet."[12] Ohne den Erkenntniswert der Ergebnisse aller übrigen human-, sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen über anthropologische Zusammenhänge diskreditieren zu wollen, bestimmt Becker als den Brennpunkt, in dem sich die Motivationsstruktur aller menschlichen Aktionen bündelt, das ökonomische Rationalprinzip, dessen faktische Realisierung in der Nutzenmaximierung aller agierenden Subjekte besteht. "Der Kern meines Argumentes ist, dass menschliches Verhalten nicht schizophren ist: einmal auf Maximierung ausgerichtet, einmal nicht; manchmal durch stabile Präferenzen motiviert, manchmal durch unbeständige; manchmal zu einer optimalen Akkumulation von Informationen führend, manchmal nicht. Alles menschliche Verhalten kann vielmehr so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Information und anderen Faktoren schaffen."[13]
Die konkreten Lebensbereiche, die Becker mit dem Prinzip des "ökonomischen Ansatzes" zu erklären versucht, sind ebenso umfassend wie vielfältig. Während seine Arbeiten zur Wirtschaftstheorie, zum Humankapital, zur Ökonomie der Ausbildung und der Allokation der Zeit noch relativ nah im Rahmen des konventionellen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschungskataloges beheimatet sind, führen die für Beckers Theorie typischen Untersuchungen über die außermarktlichen Beziehungen zwischen Menschen in den eigentlich interessanten Anwendungsbereich des "ökonomischen Ansatzes" hinein. Es geht um Ehe, Familie und Fruchtbarkeit, Kinderzahl und Kindererziehung, Kriminalität und Strafe, Rassendiskriminierung und Konsumverhalten. Dabei fördert besonders die Applikation des "ökonomischen Ansatzes" als Analyse- und Interpretationskategorie auf die Lebens- und Entscheidungsvorgänge in der Familie eine Reihe von "gewöhnungsbedürftigen" Ergebnissen zutage. Familien etwa werden als "kleine Fabriken" aufgefasst, die Produkte wie Mahlzeiten und Wohnung, Geborgenheit und Zuwendung produzieren und dafür Arbeit, Zeit und Kapital einsetzen. Das Humankapital "Kinder" und deren Zahl wird dabei ebenfalls als Funktion der Einkommen und Preise abgeleitet, wie weitreichende Entscheidungen über das Zusammenleben in der Familie, der Partnerwahl oder der Ehescheidung. Mit Hilfe des dem ökonomischen Ansatz inhärenten Rationalkalküls intendiert Becker in logischer Konsequenz auch eine Erklärung so weitreichender Phänomene wie des Bevölkerungswachstums in den Industrie- bzw. Entwicklungsländern.
Die Kritik dieses umfassenden "ökonomischen Ansatzes" zur Erklärung der innersten Motivation menschlichen Handelns hat vielschichtige Dimensionen, vor allem wissenschaftstheoretische, sozialethische und anthropologische Aspekte. Sie brauchen an dieser Stelle nicht eigens rekapituliert zu werden, zumal sowohl die Theorie Beckers als auch ihre Kritik in der ökonomischen und sozialethischen Literatur breit belegt und geläufig ist. Als status quo der Diskussion soll hier lediglich konform mit A. Suchanek im bekannten "Lexikon der Wirtschaftsethik" festgehalten werden, dass die ökonomische Theoriediskussion inzwischen eine deutliche Eingrenzung der Becker´schen Hypothese akzeptiert hat: Es wird anerkannt, dass "der homo oeconomicus keine Beschreibung des menschlichen Wesens" (426) "kein Menschenbild" und auch kein "Leitbild für eine moderne Gesellschaft" (431) darstellt, sondern "nur ein wissenschaftliches Modell menschlichen Handelns, das seine Bedeutung und seinen Sinn im Rahmen einer spezifischen wissenschaftlichen Problemstellung gewinnt" (426) und so als "Modell für die Analyse von speziellen Problemen, die auch in der Wirtschaftsethik von zentraler Bedeutung sind" (431) wichtig wird.[14]
Zwei Probleme im Umfeld des Nutzensbegriffs, die bereits in der klassischen Grenznutzentheorie, und zwar in Gestalt der beiden Gossenschen Gesetze auftauchten, bleiben m. E. in alter Schärfe bestehen, und zwar erstens das Problem der Nutzenquantifizierung und zweitens das Problem des Nutzenvergleichs. Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls der von Biervert und Wieland für die Moderne diagnostizierte "offene Nutzensbegriff" zu diskutieren, der unter weitgehender Ausschaltung ethisch qualitativer Aspekte eine sachliche Vergleichbarkeit sämtliche Nutzenskalküle annimmt. Für diesen "offenen Nutzensbegriff" gilt: "Prinzipiell alles menschliche Handeln lässt sich jetzt mit dem ökonomischen Ansatz unter dem Aspekt der Nutzenmaximierung diskutieren, auch ethisches. Die alteuropäische Hierarchisierung von Ethik und Ökonomik, der die subalterne und relationale Stellung des Nützlichen gegenüber dem Guten entsprach, ist nun aufgehoben in eine prinzipielle Gleichwertigkeit distinktiver Entscheidungslogiken."[15]
Gegenüber der rein quantitativen Nutzentheorie auf der Basis eindimensionaler ökonomischer Rationalität bietet das Zweite Vatikanische Konzil in Gaudium et spes eine klassische Antwort auf die Frage, was das Ziel der Wirtschaft ist. "Die fundamentale Zweckbestimmung dieses (wirtschaftlichen) Produktionsprozesses besteht aber weder in der vermehrten Produktion als solcher noch in der Erzielung von Gewinn oder Ausübung von Macht, sondern im Dienst am Menschen, und zwar am ganzen Menschen in Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auch auf das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt."[16]
Den wesentlichen Ansatz der Kritik an rein funktionalen ökonomischen Zielbestimmungen bringt der bekannte deutsche Sozialethiker Joseph Höffner prägnant auf den Nenner, wenn er feststellt: "Der Sinn der Wirtschaft liegt weder – rein formalistisch – im bloßen Handeln nach dem ökonomischen Rationalprinzip, noch in der Technokratie, noch in der bloßen Rentabilität, noch im größtmöglichen materiellen 'Glück' einer größtmöglichen Menschenzahl. Auch wäre es irrig, die Wirtschaft als Befriedigung von Nachfrage durch Bereitstellung eines entsprechenden Angebots zu definieren; dann entspräche nämlich der Bau von KZ-Marteranstalten, weil eine entsprechende Nachfrage von Seiten eines Menschenschinders vorliegt, dem Sachziel der Wirtschaft."[17] Wenn es um das Sachziel der Wirtschaft geht, dann sind ohne Frage all jene materiellen Voraussetzungen gemeint, ohne die menschliches Leben sich nicht entfalten und verwirklichen kann. Doch steht – wie das Exempel des von Höffner angeführten Menschenschinders zeigt – die Realisierung materieller Voraussetzungen menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten immer in Korrespondenz zu der wesentlichen ethischen Frage, ob und in welcher Weise ökonomisches Handeln der Würde der menschlichen Person gerecht zu werden vermag.
Personalität, Würde und Freiheit des Menschen haben in der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrang. Sie sind gleichzeitig wesentliche Stilelemente der Sozialen Marktwirtschaft. Unter ihren Vätern waren nicht nur Ökonomen, sondern auch Politiker, Philosophen, Theologen. Im Mittelpunkt ihres Denkens stand die eigenverantwortete Freiheit und nicht ausschließlich das ökonomische Prinzip der Nutzenmaximierung. Wenn die Arbeit des Menschen nicht auf menschliche Würde hin ausgerichtet ist, verabsolutiert, ja totalisiert sich der sozio-ökonomische Bereich. Unternehmer und Führungspersonen müssen darum realisieren, dass es ihre eigene Würde verlangt, die Würde derer zu respektieren, mit denen sie zusammenarbeiten. Das Unternehmen für sich ist kein Selbstzweck, der unter Absehung von den Mitarbeitern gelten würde, von den Menschen, die in diesem Unternehmen arbeiten.
Es sind nicht Maschinen, die Inventionen und Innovationen hervorbringen, sondern Menschen, die motiviert ihren Intellekt, ihre Kreativität und ihre geistige Spannkraft dazu einsetzen, Chancen zu erkennen, Risiken zu vermeiden und durch ihre Aktivitäten neue ökonomische, soziale, politische und technische Verhältnisse zu schaffen. Mehr als das Sachkapital wird unter künftigen Entwicklungsbedingungen hochtechnisierter Industrie- und Dienstleistungsnationen ohne Zweifel das Humankapital in den Vordergrund treten und über den Zukunftserfolg von Unternehmungen bestimmen. Daher ist es nur folgerichtig, dass das Hauptinteresse moderner Führungsstrategien sich mehr auf den Menschen im Unternehmen, den Mitarbeiter, das teure Humanvermögen richten wird als ausschließlich auf mess- und rechenbare Verfahren, Strukturen und Systeme.
„Es wird in den nächsten Jahren erstmals in der Geschichte der Industrienationen nicht nur um den Wettbewerb von Preis, Kreativität oder Qualität gehen, sondern auch um den Wettbewerb der Arbeitskultur, der Unternehmenskulturen und des Verständnisses vom Menschen und seiner Würde in der Arbeitswelt“[18] – das stellt Werner Then, der bekannte Gründer und langjährige Geschäftsführer der Randstad Organisation für Zeitarbeit GmbH, Eschborn fest, der sich auch als Präsident der Deutschen Management-Gesellschaft (seit 1982) und Leiter des Instituts für Innovation im System Arbeit an der FH Nürtingen (seit 1989) durch kreative Ideen im Bereich der betrieblichen Führungs- und Zeitorganisation einen Namen gemacht hat. Seine wichtigste These lautet, dass eine Arbeitsorganisation auf der Basis von Eigenverantwortlichkeit, kooperativem Führungsstil und partnerschaftlicher Integration der Mitarbeiter nicht nur eine Verbesserung des Betriebsklimas bedeutet, sondern eine gleichzeitige messbare Steigerung der Produktivität des Unternehmens. Werner Then belegt seine These mit konkreten Untersuchungsergebnissen, die er in seinem eigenen Unternehmen und außerdem bei AUDI in Ingolstadt und in der Großkäserei Champignon in Kempten/Allgäu durchgeführt hat.
In Hinblick auf eine zeitgerechte künftige Arbeitskultur lässt sich diese Beobachtung festhalten: Bei immer mehr Unternehmern und Führungspersonen wächst inzwischen ohne Frage die Erkenntnis, dass – wie im Falle Deutschlands – nach über 50 Jahren gelebter demokratischer Kultur mündige Wirtschaftsbürger herangewachsen sind, die nicht länger mit Befehl und Gehorsam geführt werden können. Insbesondere in anspruchsvollen, hochqualifizierten Tätigkeitsbereichen emanzipieren sich Mitarbeiter zunehmend gegenüber repressiven Strukturen in ihren Unternehmen und gegenüber autoritären Führungsstilen. Sie erwarten, dass sie in ihren Berufen Mensch sein und ohne Ängste kreativ arbeiten können. Sie akzeptieren nicht länger, lediglich als „Faktor“ Arbeit zu gelten, und wollen auch in ihrer Berufswelt mit Leib und Seele, mit Geist und Gefühl anwesend sein und sich entfalten können. Das Phantastische an dieser neuen Form von Arbeitskultur ist aber die Erkenntnis, dass sich hier der ökonomische und der humane Aspekt – wie durch eine "unsichtbare Hand" geführt – verbinden: Humanisierung der Arbeitswelt und wirtschaftliche Produktivität schließen sich nicht aus, sie bedingen sich gegenseitig. Schöpferische Arbeit, Geistesblitze, Erfindungen, Kreativität und Produktivität lassen sich gerade in hochqualifizierten Arbeitsbereichen weder mit finanziellen, noch machtpolitischen Instrumenten realisieren, sie gedeihen vielmehr und viel besser wie ein lebendiges Pflänzchen unter Klima einer humanen Arbeitskultur.
3. Konkrete Herausforderungen und neue Denkansätze
Die Frage nach der humanen Qualität eines Wirtschaftssystems, insbesondere der sozial-marktwirtschaftlichen Ordnung nimmt nach dem Zusammenbruch der sozialistischen, zentralplanwirtschaftlichen Systeme ohne Zweifel eine zentrale Stelle ein. Für die Enzyklika Centesimus annus zentriert sich diese Frage vor allem auf die historische Umbruchssituation, die mit dem Jahr 1989 entstanden ist. Der Papst frägt: „Kann man etwa sagen, dass nach dem Scheitern des Kommunismus der Kapitalismus das siegreiche Gesellschaftssystem sei und dass er das Ziel der Anstrengungen der Länder ist, die ihre Wirtschaft und Gesellschaft neu aufzubauen versuchen?“[19]
Geleitet vom Kriterium der Möglichkeit freiheitlicher Selbstverwirklichung der Menschen in einem durch eine feste Rechtordnung gesicherten gesellschaftlichen Umfeld fällt die Antwort der Enzyklika dialektisch aus. Einerseits gilt: „Wird mit ´Kapitalismus´ ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv.“[20] Dagegen lehnt der Papst in einer diametralen Gegenüberstellung eine rechtlich ungeordnete, „wilde“ und wertfreie Marktwirtschaft im Stile des häufig als extremes Negativbeispiel einer pervertierten marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung zitierten „Manchesterkapitalismus“ definitiv ab: „Wird aber unter ´Kapitalismus´ ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ."[21]
Vor dem Hintergrund dieser fundamentalen sozialethischen Anforderungen der Enzyklika an eine gerechte Wirtschaftsordnung sollen nun einige konkrete Fragestellungen und neue Herausforderungen benannt werden, wie sie sich aus den ordnungsethischen Grundlagen und wirtschaftspolitischen Konsequenzen des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft ergeben.
3.1. Die Soziale Marktwirtschaft und die Grenzen des Marktes
Nach den Worten eines der bedeutendsten Gründerväter des deutschen Modells der Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack´s, geht es bei der Konzeption der "Sozialen Marktwirtschaft" um ein Programm, das beabsichtigt, "das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden."[22] Damit wird – wie man in seinem berühmten Buch zur „Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft“ lesen kann – zugleich die ökonomische und gesellschaftliche Grundlage für eine "neuartige Synthese von Sicherheit und Freiheit"[23] gelegt. Nach allen geschichtlichen Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft ist mit diesem deutschen Nachkriegsmodell eine einzigartige und erfolgreiche Wirtschaftsordnungspolitik begründet, die in doppelter Hinsicht sowohl dem ethischen Anspruch, wie er von der kirchlichen Sozialverkündigung im Namen der Würde der Person erhoben wird, korrespondiert, als auch den Ansprüchen ökonomischer Effizienz gerecht wird, wie sie vom Rationalprinzip geboten sind. Nicht umsonst kommt einem hier die berühmte Definition von Lionel Robbins in den Sinn, der feststellte: Wirtschaft ist "rationaler Umgang mit knappen Ressourcen zur Befriedigung von Bedürfnissen."[24]
Mit der Konzeption einer sozial gebunden Marktwirtschaft wird der eindimensionale Rahmen reiner Marktwirtschaft mit theoretisch freier Konkurrenz der Egoismen gesprengt und der Blick auf ein solidarisches, gesamtmenschliches Geschehen hin geöffnet, das – wie Wilhelm Röpke es klassisch formulierte – "jenseits von Angebot und Nachfrage" liegt. Persönliche Freiheit, soziale Sicherheit und sozialer Friede werden in diesem Kontext zu wesentlichen Zielen der Wirtschaftspolitik.
Zudem liegt der Theorie der Sozialen Marktwirtschaft zweifellos ein Menschenbild und eine Gesellschaftsauffassung zugrunde, die weit vom individualistischen Freiheitsbegriff eines reinen Manchesterkapitalismus entfernt ist. Die anthropologische und soziale Grundlage ist vielmehr ein solidarisches ordnungspolitisches Gesellschaftskonzept, das die ökonomischen Zuständigkeiten in der Marktwirtschaft jeweils neu und konkret an den Kriterien der Freiheit der Person einerseits und der Verantwortung für die Gemeinschaft andererseits ausrichtet. Auf klassische Weise bringt Oswald von Nell-Breuning diese ethisch motivierte Anforderung an die Soziale Marktwirtschaft auf den Punkt. In seinem bekannten Artikel "Soziale Marktwirtschaft" im Wörterbuch der Politik, das bereits 1949 in erster Auflage in Freiburg gedruckt wurde, formuliert er: "Soll die Marktwirtschaft wirklich mehr sein als ein bloßer Kampf ums Dasein, soll sie einer echten wirtschaftlichen Wettbewerbsordnung unterstellt werden, so führt dies mit Notwendigkeit über die (alt-) liberale Auffassung von Wirtschaft überhaupt und von Marktwirtschaft hinaus" zum Konzept der "gesellschaftlich gebundenen oder sozialen Marktwirtschaft."[25] Wesentliches Element der marktwirtschaftlichen Ordnung ist eine Wettbewerbsordnung, die einerseits "die schwierigste ihr gestellte Aufgabe meistert, die wirtschaftliche Macht in einen geordneten Wettbewerb einzubauen," und der es andererseits gelingt, "den Wettbewerb unter Wirtschafts- und Marktbeteiligten, die mit ungleichen Startbedingungen in den Wettbewerb eintreten, so zu ordnen, dass er für alle Beteiligten sinnvoll und aussichtsreich ist."[26]
An dieser Stelle ist es logisch, mit der Enzyklika Centesimus annus eine Verabsolutierung des Marktes – die Enzyklika spricht von „Vergötzung“ – zu kritisieren, wo es um eine qualitativ andere Dimension von Bedürfnissen, Gütern und menschlichen Erfordernissen geht, die im reinen Marktmechanismus nicht adäquat berücksichtigt oder abgedeckt werden können. Hier ist es evident und richtig, von einer „neuen Grenze des Marktes“ zu sprechen. Centesimus annus beschreibt diese Dimension folgendermaßen: „Es gibt gemeinsame und qualitative Bedürfnisse, die mit Hilfe seiner [des Marktes] Mechanismen nicht befriedigt werden können. Es gibt wichtige menschliche Erfordernisse, die sich seiner Logik entziehen. Es gibt Güter, die aufgrund ihrer Natur nicht gekauft und verkauft werden können und dürfen. Gewiss bieten die Marktmechanismen sichere Vorteile. Sie helfen u.a. dabei, besseren Gebrauch von den Ressourcen zu machen; sie fördern den Austausch der Produkte und stellen den Willen und die Präferenzen des Menschen in den Mittelpunkt, die sich im Vertrag mit denen eines anderen Menschen treffen. Diese Mechanismen schließen jedoch die Gefahr der ´Vergötzung´ des Marktes ein, der die Existenz von Gütern ignoriert, die ihrer Natur nach weder bloße Waren sind noch sein können.“[27] Diese Warnung vor der Verabsolutierung des marktwirtschaftlichen Prinzips durch die Totalisierung seiner Anwendung auf alle Lebensbereiche beinhaltet einen wesentlichen humanen und sozialen Impuls: Sie verhindert einerseits eine zutiefst inhumane und ideologische Totalerfassung aller menschlichen Lebensbereiche durch marktwirtschaftliche Rationalität, wie Gary Becker es mit seinem „ökonomischen Ansatz zur Erklärung allen menschlichen Verhaltens“ intendierte, und sie verhindert andererseits, dass marktwirtschaftliche Mechanismen zu einem gesellschaftlichen Machtfaktor avancieren, der das gesellschaftliche Leben als Ganzes unter das Kriterium des Wettbewerbs und des Konkurrenzdrucks der Egoismen (Adam Smith) brächte, wovor Oswald von Nell Breuning überzeugend warnte.
3.2. Der ökologischer Umbau der Industriegesellschaft
Der Zielerahmen sozial-marktwirtschaftlicher Systeme muss angesichts der immensen Herausforderungen im ökologischen Bereich evident um die umweltpolitische Dimension erweitert werden. Das moderne Schlagwort heißt "ökologischer Umbau der Industriegesellschaft."
Ökonomisch gesehen geht es hier um das Problem der Internalisierung "negativer externer Effekte" das sog. "Coase-Theorem". Unter den gängigen Bedingungen marktwirtschaftlicher Wettbewerbsordnungen ist mit dem Stichwort des "Coase-Theorems" der Prozess der Anlastung negativer ökologischer Folgen industrieller Produktion an die Gemeinschaft gemeint. Diese von Ronald Coase erforschte volkswirtschaftliche Wechselwirkung führte mit gewisser innerer Logik zu dem Schlagwort: Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der Kosten!
Eine sozialethisch ebenso logische wie dringliche strukturpolitische Konsequenz aus dieser Konstellation wäre die Forderung nach der Zurechnung der Umweltkosten auf den Verursacher: Die "Internalisierung negativer externer Effekte" als konsequente Realisierung des Verursacherprinzips. Allerdings erfordert die Realisierung dieses Prinzips notwendige und ergänzende "flankierende Maßnahmen": Zur Umsetzung dieser strukturellen Änderung – auch im Sinne der Forderung eines ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft – muss zuvor die Schaffung ordnungspolitischer Rahmenbedingungen angezielt werden, unter denen eine drastische Kostenbenachteiligung umweltpolitisch orientierter unternehmerischer Entscheidung vermieden und ein differentialer Verdrängungswettbewerb auch und vor allem im internationalen Rahmen zu Ungunsten des ökologisch "sauberen" Unternehmens ausgeschlossen wird.
Wie sehr die Sicherung der ökologischen Verträglichkeit wirtschaftlichen Handelns und die umweltkonforme Wirtschaftsweise auch im Rahmen des weltwirtschaftlichen Güteraustausches im Interesse der Enzyklika Centesimus annus liegt, zeigt die Tatsache, dass Papst Johannes Paul II. die ökologische Forderung an das marktwirtschaftliche System unmittelbar neben die klassischen volkswirtschaftlichen Ziele der sozialen Marktwirtschaft stellt. In CA, Artikel 40 stellt er heraus: „Es ist Aufgabe des Staates, für die Verteidigung und den Schutz jener gemeinsamen Güter, wie die natürliche und die menschliche Umwelt zu sorgen, deren Bewahrung von den Marktmechanismen allein nicht gewährleistet werden kann.“[28] Bemerkenswert ist dabei, dass in der Argumentationslinie der Enzyklika auf der Basis sozialethischer Erwägungen sogar ein qualitativ analoger Grad an Verpflichtung festgestellt wird zwischen den klassischen Regulierungen im Bereich der Arbeitsordnung einerseits und den nun neu entstehenden Herausforderungen im Bereich der ökologischen Probleme andererseits. Beides ist in der Würde der menschlichen Person begründet. Das entscheidende ethische Kriterium ist in beiden Fällen gleichermaßen der Schutz und die Entfaltung der menschlichen Existenz: „Wie der Staat zu Zeiten des alten Kapitalismus die Pflicht hatte, die fundamentalen Rechte der Arbeit zu verteidigen, so haben er und die ganze Gesellschaft angesichts des neuen Kapitalismus nun die Pflicht, die gemeinsamen Güter zu verteidigen, die u.a. den Rahmen bilden, in dem allein es jedem einzelnen möglich ist, seine persönlichen Ziele auf gerechte Weise zu verwirklichen.“[29]
3.3. Entwicklungshilfe und weltweite Solidarität
Auf lange Sicht führt kein Weg daran vorbei, die europäische und globale Dimension wirtschaftlicher Aktivitäten, insbesondere die entwicklungspolitische Dimension wirtschaftlicher Prozesse verstärkt in die sozial-marktwirtschaftliche Theorie und Praxis zu integrieren.[30]
Die optimistischen Perspektiven weltweiten wirtschaftlichen Wachstums der 60er Jahre sind nachhaltig tangiert von der Vorstellung der "Grenzen des Wachstums" auf dem Planeten Erde, wie sie der Club of Rome mehrfach propagierte. Es ist vor allem das Kombinationsproblem von Armut und Überbevölkerung, das weltweite Ratlosigkeit erzeugt und eine technisch-evolutive Entwicklungspolitik vor ihre Grenzen geführt hat. Die zukunftsweisende strategische Ausrichtung der Entwicklungspolitik nach sozial-marktwirtschaftlichen Prinzipien wäre nach dem weltweiten Scheitern sozialistisch-planwirtschaftlicher Konzepte ein internationaler Segen.
Zweifellos gehört es zu den theoretischen Grundeinsichten einer global orientierten Wirtschaftspolitik, insbesondere der Entwicklungspolitik, dass die neuen globalen Herausforderungen im Bereich der Umweltkrisen, der Überbevölkerung, der Armutsbekämpfung und der Migration Weltprobleme sind, die nur in weltweiter solidarischer Zusammenarbeit und in schrittweisem Vorgehen anzugehen sind. Es wäre eine fatale Folge einer eindimensionalen Nutzenkalkulation, wenn hier strukturpolitisch notwendige und zukunftsweisende Entscheidungen im globalen entwicklungspolitischen Bereich unterblieben.
Offensichtlich sind breite Bereiche der Entwicklungshilfeproblematik bereits in der Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ (1987) Papst Johannes Pauls II. eingehend behandelt. Sie steht in einer langjährigen Tradition der sozialen Sorge der Kirche um die Entwicklungsländer, die insbesondere durch die Diskussion auf dem Zweiten Vatikanum im Umfeld der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (1964) und in der Enzyklika „Populorum progressio“ (1967) Papst Pauls VI. deutlichen Ausdruck fand. Der neue, vorwärtsgreifende Gedankenanstoß der Enzyklika „Centesimus annus“ im Jahr 1991 besteht m.E. in der systematischen Fragestellung, ob und inwieweit eine – in den Worten der Enzyklika – nach „kapitalistischen“ Prinzipien operierende, oder besser formuliert: eine marktwirtschaftliche Ordnungsform „das Modell ist, das den Ländern der Dritten Welt vorgeschlagen werden soll, die nach dem Weg für den wahren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt suchen?“[31]
3.4. Das Problem der Arbeitslosigkeit und das Recht auf Arbeit
Als die zentralste und aktuellste aller Anforderung an die Reform der sozialen Marktwirtschaft stellt sich für die mittelfristige Zukunft auch nach dem Jahr 2000 das Problem der hohen Arbeitslosigkeit. Wir brauchen weltweit- in Analogie zu dem in Deutschland typischen Schlagwort der 50er Jahre – Arbeit für alle! Notwendig ist darum eine weltweite, effektive Arbeitsmarktpolitik, die zur Sicherung eines möglichst hohen Beschäftigungsgrades, im Idealfall zur Realisierung des Zieles der Vollbeschäftigung führt.
Dieses Ziel erfordert allerdings die Realisierung und Umsetzung einer Reihe von neuen, möglicherweise unangenehmen Wahrheiten:
Betriebliche Innovation, unternehmerische Kreativität und offensive Qualifikation der Mitarbeiter ist in marktwirtschaftlichen Systemen, die sich außerdem durch ein relativ hohes Lohnniveau auszeichnen, durch nichts zu ersetzen. Sie sind die Voraussetzung für eine langfristige Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, allerdings ohne protektionistische Maßnahmen, wirtschaftliche Abschottung oder Sozialdumping.
Das Zentralproblem hoher Arbeitslosigkeit in marktwirtschaftlich orientierten Systemen ist im Grunde ein Kostenproblem. Dringend notwendig ist darum eine weitsichtige und nachhaltige Kostenentlastung der Wirtschaft. Die Abgabenquote und die Steuerbelastung sowohl der Unternehmungen wie auch der Arbeitnehmer muss dort zurückgeführt werden, wo sie die Konkurrenzfähigkeit auf dem Markt, und damit die Überlebensfähigkeit der Unternehmen gefährdet oder behindert.
Die Enzyklika Centesimus annus stellt in der Frage nach einem „Recht auf Arbeit“ sehr differenziert die Verantwortung des Staates und die Tätigkeit der Unternehmen heraus. Dabei kommt im sozial-marktwirtschaftlichen Kontext dem Staat zur Sicherung der Beschäftigung die Aufgabe „stellvertretender Interventionen“[32] zu, keineswegs, wie in sozialistisch-planwirtschaftlichen Systemen üblich, die Möglichkeit direkter Steuerung. Das ist elementar und wichtig, um die feine Balance zwischen marktwirtschaftlicher Freiheit und sozialer Verantwortung nicht zu zerstören. Im Grunde bestätigt der Begriff der „stellvertretenden Intervention“ des Staates das Prinzip der „marktkonformen Steuerung“, wie es von den Theoretikern der sozialen Marktwirtschaft entwickelt wurde. Die Enzyklika beschreibt diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Der Staat könnte das Recht aller Bürger auf Arbeit nicht direkt sicherstellen, ohne das gesamte Wirtschaftsleben zu reglementieren und die freie Initiative der einzelnem abzutöten. Das besagt jedoch nicht, dass er auf diesem Gebiet überhaupt keine Kompetenz habe, wie jene behaupten, die für einen völligen Verzicht auf Ordnungsnormen im Bereich der Wirtschaft eintreten. Ja, der Staat hat die Pflicht, die Tätigkeit der Unternehmen dahingehend zu unterstützen, dass er Bedingungen für die Sicherstellung von Arbeitsgelegenheiten schafft. Er muss die Tätigkeit dort, wo sie sich als unzureichend erweist, anregen bzw. in Augenblicken der Krise unter die Arme greifen.“[33]
In engem Zusammenhang mit Arbeit und Vollbeschäftigung steht in sozial-marktwirtschaftlichen Systemen mehr und mehr die Frage der Sicherung der Finanzierbarkeit des sozialen Netzes. Ihr kommt hohe Priorität zu. Schließlich sollte das Element der sozialen Sicherung keineswegs nur als Kostenfaktor kritisiert, sondern umgekehrt in seiner positiven Wirkung für soziale Sicherheit und sozialen Frieden, und damit als strukturelle Voraussetzung hoher ökonomischer Produktivität erkannt werden.
Es ist nicht zuletzt die Frage des Verhältnisses des freien Rechts auf Arbeit einerseits und der Notwendigkeit sozialer Sicherung andererseits, die auf das Grundanliegen der Enzyklika Centesimus annus von Anfang an zurückführt: Kein Lebensbereich der Gesellschaft, sei es Wirtschaft oder Politik, Wissenschaft oder Kultur, besitzt einen autonomen Selbstzweck in sich. Das wesentliche Ziel ist immer die menschliche Person und ihre freiheitliche Entfaltung im Rahmen der gesellschaftlichen Solidarität. Nur dort, wo der Mensch als „Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft"[35] erfasst und in seiner unveräußerlichen Würde respektiert wird, ist der Aufbau einer humanen Gesellschaft unter menschenwürdigen Bedingungen denkbar. Im Bereich der ökonomischen Theorie und Praxis bedeutet das: Es führt kein Weg daran vorbei, den Menschen als Schlüsselfaktor der Wirtschaft, vor allem des modernen sozial-marktwirtschaftlichen Systems zu bestimmen. Erst in diesem Zusammenhang wird erneut deutlich, dass Wirtschafts-Ethik keine „contradictio in se“ ist, sondern das systematische Zusammendenken elementarer Bestandteile eines logischen und einheitlichen Ganzen. Wirtschaft und Ethik schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig und setzen sich voraus.
1 Centesimus annus, 23,1
2 Centesimus annus, 24, 1.
3 Gaudium et spes, 63, 1. "Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft."
4 Centesimus annus, 31, 3.
5 Centesimus annus, 32,3.
6 Josef A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 61964.
7 Centesimus annus, 32,1.
8 Centesimus annus, 32,4.
9 Zum Überblick sei hier auf eine eng umgrenzte exemplarische Auswahl von Monographien und Sammelwerken hingewiesen: Küng, Emil: Wirtschaft und Gerechtigkeit, Tübingen 1967; Rawls, John: A Theory of Justice, Cambridge 1971; Rich, Arthur: Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Gütersloh 1984; Buchanan, Allen: Ethics, Efficiency and the Market, Oxford 1985; Ulrich, Peter: Transformation der ökonomischen Vernunft, Bern 1986; Koslowski, Peter: Prinzipien der ethischen Ökonomie, Tübingen 1988; Hesse, Helmut (Hrsg.): Wirtschaftswissenschaft und Ethik, Berlin 1988; Bievert, Bernd (Hrsg.): Ethische Grundlagen der ökonomischen Theorie, Frankfurt, New York 1989; Molitor, Bruno: Wirtschaftsethik, München 1989; Lampert, Heinz: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., München 1990.
10 Zum Überblick über die Grundlagen und zur Kritik des Beckerschen Ansatzes vgl. Anton Losinger, Ökonomische Rationalität in allen Lebensbereichen? Der "ökonomische Ansatz" Gary S. Beckers im Kritikfeld der theologischen Anthropologie, in: Norbert Glatzel / Eugen Kleindienst (Hrsg.), Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens. Festschrift für Anton Rauscher, Berlin 1993, 93 - 110.
11 Der Begriff entspricht dem Titel seines populären Werkes: Gary S. Becker, The Economic Approach to Human Behavior, Chicago: University of Chicago Press 1976. Deutsche Ausgabe: Ders.: Der ökonomische Ansatz. Zur Erklärung menschlichen Verhaltens (= Becker, Der ökonomische Ansatz), Tübingen 1982.
12 Becker, Der ökonomische Ansatz 15. Vgl. auch 3: "Ich bin der Auffassung, dass die besondere Stärke des ökonomischen Ansatzes darin liegt, dass er eine breite Skala menschlichen Verhaltens integrativ erfassen kann."
13 Becker, Der ökonomische Ansatz 15.
14 Andreas Suchanek, Art. homo oeconomicus, in: Georges Enderle u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg 1993 (= LWE), 426 - 431.
15 Bernd Biervert / Josef Wieland, Art. Nutzen, in: LWE 766. Vgl. Dazu grundlegend Bernd-Thomas Ramb / Manfred Tietzel (Hrsg.), Ökonomische Verhaltenstheorie, München 1993.
16 Gaudium et spes, 64.
17 Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 7. Aufl., Kevelaer 1978, 159-160.
18 Werner Then, Der Betrieb und seine Organisation und Führung, in: Robert Eiter/Lothar Roos (Hrsg.), Der Mensch im Betrieb. Arbeit – Verantwortung – Lebenssinn (= Beiträge zur Gesellschaftspolitik Bd. 34), Trier 1994, S. 52.
19 Centesimus annus, 42,1.
20 Centesimus annus, 42,2.
21 Centesimus annus, 42,2.
22 Alfred Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Freiburg 1966, 243.
23 Alfred Müller-Armack, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Freiburg 1974, 46.
24 Lionel Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, London-New York 1932, 21935.
25 Oswald von Nell-Breuning, Art. Marktwirtschaft, 4. Die gesellschaftlich gebundene oder soziale Marktwirtschaft, in: Nell-Breuning, O. v., Sacher, H. (Hrsg.), Wörterbuch der Politik, IV. Zur Wirtschaftsordnung, Freiburg 1949, 36.
26 Ebd. 41.
27 Centesimus annus, 40,2.
28 Centesimus annus, 40,1.
29 Ebd. 40,1.
30 Vgl. hierzu die Beiträge in dem jüngst erschienenen Buch: Horst Albach (Hrsg.), Globale Soziale Marktwirtschaft. Ziele - Wege - Akteure, Wiesbaden 1994.
31 Centesimus annus, 42,1.
32 Centesimus annus, 48,3.
33 Centesimus annus, 48,2.
34 Vgl. Anton Losinger, „Iusta autonomia.“ Studien zu einem Schlüsselbegriff des Zweiten Vatikanischen Konzils, Paderborn 1989.
35 Gaudium et spes, 63,1. "Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft."