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Wichtiges
Beitrag für die Zeitschrift der Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern - Bayerische Sozialnachrichten 2/2007

Der Sozialstaat – Errungenschaft und Verpflichtung. Sozialethische Positionen zur Reform.

08.02.2010

Der Sozialstaat und das Konzept der sozialen Marktwirtschaft insgesamt ist eine Errungenschaft, die wesentlich zur sozialen Sicherheit, zum sozialen Frieden und damit zur Stabilität unseres Gemeinwesens in der Bundesrepublik beigetragen hat. Doch der Sozialstaat heutiger Prägung hat sich übernommen und ist den dramatischen Herausforderungen einer globalen Welt unter den Insignien des demografischen Wandels unserer Gesellschaft nicht mehr gewachsen. Deshalb ist die Neugestaltung des Sozialstaates gegenwärtiger Prägung dringend erforderlich.

Hiergegen wenden sich all diejenigen, die an einen „umverteilenden“ Sozialstaat glauben, der (1.) Gerechtigkeit schafft, indem er schlicht Geld verteilt, der (2.) unter den der-zeit gegebenen Finanzierungsbedingungen – ceteris paribus – finanzierbar bleibt, und (3.) dessen soziale Sicherungssysteme in ihrer derzeitigen Struktur – auch unter der massiven Be-lastung der demografischen Wende – dauerhaft tragen. Neue Lösungen zu suchen, die dem Wandel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage Rechnung tragen, ist nicht gleichbe-deutend mit dem „Abbau des Sozialstaates“. Es geht nicht um Abriss oder Abbau, sondern wie Bundespräsident Köhler in seiner Antrittsrede forderte um „eine Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land“. Dieses Zitat stammt aus dem Impulstext „Das Soziale neu denken“, den die deutschen Bischöfe 2003 veröffentlichten und in dem sie Orientierungen für eine langfristig angelegte Reformpolitik vorlegten, die auch Grundlage dieser Darstellung sind.
Die nüchterne Analyse zeigt: Die soziale und wirtschaftliche Lage in unserem Land kommt einer echten Krise bedrückend nahe. Die strukturell verfestigte Massenarbeitslosigkeit hat ein unerträgliches Maß erreicht. Hinzu kommt, dass angesichts der hohen Staatsschulden, der Überforderung der öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungen vom Staat keine Wohlta-ten mehr erwartet werden können. Die Menschen machen sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz sowie um ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder.
Diese Sorgen der Menschen sind Aufgabe und Herausforderung für eine langfristig wirksame Politik, die den Menschen ins Zentrum ihres Handelns stellt. Zentrale Aufgaben einer solchen Politik sind:

  • Abbau der Arbeitslosigkeit: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland hat einen dramati-schen Stand erreicht, auch wenn sic derzeit durch den leichten konjunkturellen Auf-schwung eine moderate Entspannung des Arbeitsmarktes abzeichnet. Die Arbeitslosigkeit – insbesondere im Niedriglohnsektor der Schwervermittelbaren Arbeitnehmen im Hartz IV Sektor – stellt weiterhin die drängendste politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung dar, für deren Bekämpfung keine einfachen Rezepte zur Verfügung stehen. Gleichwohl zeigt der internationale Vergleich, dass Arbeitslosig-keit kein unabwendbares Schicksal ist, dem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hilf-los ausgesetzt wären. Die Politik kann nicht versprechen, für jeden einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen zu können. Doch sie muss die Reformen des Arbeitsmarktes, des Steuersystems und der sozialen Sicherungssysteme nachhaltig betreiben, damit die strukturellen Voraussetzungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen erhalten wer-den und neue entstehen können. Besonderes Augenmerk ist auf die Problematik der Langzeitarbeitslosigkeit und die schwierige Arbeitsmarktlage der niedrig qualifizier-ten Arbeitnehmer zu legen. Wenngleich der Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt oberste Priorität zukommt, bleibt öffentlich geförderte Arbeit für einen Teil der Arbeitssuchenden? und auch zur Gestaltung von Übergängen notwendig. Arbeit ist nach dem Verständnis der christlichen Soziallehre mehr als nur Einkommensquelle, der Verlust des Arbeitsplatzes mithin mehr als eine sozialpolitisch zu kompensierende Einkommenseinbuße. Die Beteiligung am Er-werbsleben eröffnet Chancen in vielen Lebensbereichen. Daher ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, die Teilnahmechancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Jede be-schäftigungsfördernde Politik besitzt somit eine originär soziale Komponente.

  • Solidarische Leistungsgesellschaft: Die anhaltende Arbeitslosigkeit und die Zunahme neuer sozialversicherungsfreier oder nur minimal versicherungspflichtiger Formen der Erwerbsarbeit, aber auch der demographische Wandel, tragen zu einer erhebli-chen Minderung der Einnahmen in den Sozialversicherungssystemen bei. Die Finan-zierungssysteme müssen den gewandelten Verhältnissen Rechnung tragen. Die Men-schen brauchen auch in Zukunft soziale Sicherungssysteme, auf die sie sich verlassen können. Durch eine langfristig angelegte Politik muss der Sozialstaat gesichert wer-den, insbesondere im Interesse derjenigen, die auf seine Hilfe angewiesen sind. Unser Sozialstaat muss auch zukünftig die Solidarität mit den Schwachen gewährleisten und zugleich die Bereitschaft und Befähigung zu Eigenverantwortung und Selbstinitiative unterstützen. Denn „eine Gesellschaft, die ihre sozialen Sicherungssysteme nicht neu-en Herausforderungen anpasst, gefährdet ihren inneren Zusammenhalt, heißt es un-zweideutig in der Einleitung zum bischöflichen Impulstext: „Das Soziale neu denken“.

  • Stärkung der Familie: Die Menschen wollen, dass ihre Beziehungen, dass Ehe und Familie glücken, auch wenn dies nicht immer gelingt. Der Staat kann dies nicht her-beiführen. Doch staatliches Handeln kann Hilfestellung bieten, das den unterschiedli-chen Gestaltungsformen von Familie und den daraus resultierenden Anforderungen an Betreuung, Ausbildung, Arbeitsplatz usw. gerecht wird. Weil Ehe und Familie ei-nen grundlegenden Beitrag für die Entfaltung des Einzelnen und für die Zukunft un-serer Gesellschaft erbringen, verpflichtet das Grundgesetz die staatliche Gemeinschaft, Ehe und Familie besonders zu schützen. Die Einzigartigkeit der Ehe muss res-pektiert und ehe- und familienfördernde Rahmenbedingungen müssen verwirklicht werden. Es wäre schon viel erreicht, wenn der Staat den Familien das zukommen lie-ße, was ihnen auf Grund ihrer Leistungen für die Gesellschaft zusteht. So sind z.B. die Familienleistungen in den Sozialversicherungssystemen und im Steuerwesen adä-quat zu berücksichtigen. Auch mit Familienarmut dürfen wir uns nicht abfinden. Die Bekämpfung der strukturellen Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber Fami-lien ist und bleibt eine zentrale Aufgabe der Politik. Aber Familienpolitik ist nicht nur eine staatliche Aufgabe. Der Familienfreundlichkeit des Wirtschafts- und Arbeitsle-bens muss in diesem Zusammenhang höchste Aufmerksamkeit gelten: mit Rücksicht auf die berufstätigen Mütter und Väter ebenso wie im Interesse der ganzen Gesell-schaft. Was wir brauchen sind flexiblere Arbeitszeiten, Arbeitszeitkonten, Teilzeittätigkeit, Jobsharing u.a. Nicht die Familie muss arbeitsweltgerecht, sondern die Ar-beitswelt muss familiengerecht werden, wie es im Wort der Bischöfe heißt. Wir brau-chen eine Gesellschaft, die Familien unterstützt und Freude an Kindern und damit auch an der Zukunft hat.

  • Solide Bildungspolitik: Ergänzend zu einer Politik der Stärkung der Familien brauchen wir eine solide Bildungspolitik. Die Zukunft unserer Gesellschaft und die Beteiligungschancen jedes Einzelnen hängen von der in Familien und Schulen gemeinsam erbrachten Bildungs- und Erziehungsleistung ab. Bildung wird zu einer der wichtigs-ten Zukunftsinvestitionen. Es ist bereits jetzt absehbar, dass die Herausforderungen an den Sozialstaat weniger in den gängigen sozialen Schichtungsmerkmalen liegen als dass sich neue soziale Ungleichheiten entlang der Dimension „Wissen“ und „Nichtwissen“ abspielen. Umso bedeutsamer ist daher eine konsequente Bildungsförderung, sie eröffnen dem Einzelnen Zukunfts- und Beteiligungschancen. Denn die Lebensper-spektiven und Chancen der Menschen in der Wirtschaft von morgen werden zunehmend von der Partizipation an Wissen und der Fähigkeit zu Lernen bestimmt werden.
    Wir wissen alle um diese zentralen Herausforderungen, dennoch sind augenscheinlich in die Zukunft weisende, langfristig tragfähige Erneuerungen schwer zu verwirklichen und zwar unabhängig von Regierungskonstellationen. Denn im Wesentlichen verhindern bzw. bremsen mentale und strukturelle Blockaden die Fortentwicklung des Sozialstaates: Es gibt ein Un-gleichgewicht im politischen Prozess zwischen gut organisierten und daher einflussreichen Interessen einerseits und schlecht organisierbaren, aber in besonderer Weise der Unterstüt-zung des Staates bedürfender Interessen andererseits. Ebenso herrscht ein Ungleichgewicht zwischen den aktuell drängenden Problemen und Forderungen und den absehbaren – mögli-cherweise schwerer wiegenden – Problemen und Forderungen der Zukunft.
    Neben der stark korporatistischen Prägung des politischen Systems der Bundesrepublik, die oft partikularen Interessen zu Dominanz verhilft, zeigt sich auch, dass die lange Zeit gepfleg-te Verengung des Verständnisses von Sozialpolitik auf Verteilungspolitik nicht Ziel führend war. Dadurch wurde ausgeblendet, dass vor allem Familienpolitik, aber auch Bildungs- und Berufsbildungspolitik zukunftsorientierte Bereiche der Gesellschaftspolitik sind. Wir müssen die Blickrichtung ändern: Nicht mehr die Verteilungsgerechtigkeit – die weiterhin ihre Be-rechtigung hat – kann allein im Vordergrund stehen, sondern die Beteiligungsgerechtigkeit muss stärker in den Blick genommen werden. Familien- und Bildungspolitik müssen Teil einer vorausschauenden Sozialpolitik sein, die zu mehr Beteiligungsgerechtigkeit führt und neben der Alterssicherung nun vor allem die Nachwuchsförderung vorantreibt.
    Nicht zuletzt fehlen Institutionen, die den Blick auf das Ganze und auf eine nachhaltige, zukunftsorientierte Politik richten. Gerade dieser letzte Punkt bedeutet im Zusammenhang mit der Dominanz der Partikularinteressen einen Mangel an Rationalität in der Fortentwicklung des Sozialstaates.
    Mag es für die Ausgestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft auseinander gehende Ansichten geben, über die gestritten werden darf und soll, in der Frage der Fundamente aber ist ein Grundkonsens unverzichtbar. „Der Mensch muss Ursprung, Träger und das Ziel aller gesell-schaftlichen Einrichtungen sein und bleiben“, so fordert es bereits Johannes XXIII. in der Sozialenzyklika „Mater et Magistra“. Daher muss die Grundausrichtung aller Reformbemü-hungen sein, den Menschen ins Zentrum allen politischen Handelns zu stellen. Insbesondere die Wirtschafts- und Sozialpolitik sind daran zu messen, inwieweit sie letztlich der Wohlfahrt und den Entfaltungsmöglichkeiten aller Menschen zugute kommen. Deshalb sind Subsidiarität und Solidarität die entscheidenden Fundamente des Sozialstaates. Dabei ist Subsidiarität gerade nicht mit fortschreitender Entsolidarisierung und Individualisierung gleichzusetzen, sondern als wirksame Hilfe zur Selbsthilfe zu verstehen. Der auf dem Prinzip der Solidarität gründende Sozialstaat findet seine wesentliche Aufgabe in der Organisation von Selbstver-antwortung und Hilfsbereitschaft. So sind Solidarität und Subsidiarität aufeinander verwiesen. Erst im Zusammenspiel ermöglichen sie eine gerechte und zukunftssichere soziale Ord-nung und dienen so der vollen Entfaltung der Person in der Gemeinschaft.
    Wenn wir nichts ändern, setzen wir den Sozialstaat aufs Spiel. Wenn nichts getan wird, wer-den die Schwachen die Leidtragenden sein, weil sie in besonderer Weise auf die Förderung durch den Sozialstaat angewiesen sind. Der Auftrag für einen tief greifenden Umbau des So-zialstaats entspringt der Sorge um die Armen. Für diejenigen, die der Unterstützung und auch des Schutzes bedürfen, muss der Sozialstaat „armuts- und zukunftsfest“ gemacht werden. Die Fortentwicklung des Sozialstaates ist eine Frage der Gerechtigkeit und nicht nur aus ökonomischen Gründen notwendig.
    Unter den gegenwärtigen ökonomischen, sozialen und demographischen Bedingungen geht es heute in erster Linie um diejenigen, die allein auf sich gestellt keine hinreichende Chance auf Beteiligung haben: die Arbeitslosen, die Familien, die in den Bildungssystemen Ausge-grenzten und die zukünftigen Generationen. Es wird die gemeinsame Aufgabe aller Verant-wortlichen sein, diesen langwierigen und komplexen Prozess der Fortentwicklung des Sozialstaates erfolgreich zu bewerkstelligen. Die katholische Kirche wird diesen Reformprozess kritisch, aber konstruktiv begleiten. Denn wie Papst Benedikt XVI in der Enzyklika „Deus Caritas Est“ betont: „Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um die Gerechtigkeit... geht sie zutiefst an“.