Warten können und wachsam sein: Tugenden im Advent
„Wachen ist unser Dienst. Wachen auch für die Welt.“
Um diese Worte kreist Silja Walter in einem Gedicht, das den Titel trägt: Gebet des Klosters am Rand der Stadt. Könnte das nicht auch ein Motto sein für unser Wirken als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bischöflichen Ordinariates, vor allem in der Seelsorge: Wachen ist unser Dienst. Wachen auch für die Welt. Im Lateinischen fließen Wachen und Warten in
einem
Wort, nämlich vigilare,
zusammen. Auch das kirchliche Nachtgebet nennen wir die Vigil.
Worauf wir nicht alles warten:
Wir warten an der Ampel.
Wir warten an der Kasse im Supermarkt.
Wir warten auf den Urlaub.
Wir warten auf den medizinischen Befund - zwischen Hoffen und Bangen.
Wir warten auf einen lieben Gast und können sein Kommen kaum erwarten.
Manchmal müssen wir etwas abwarten, bis eine Entscheidung reif ist.
Wir erwarten einen runden Geburtstag, ein Jubiläum, die Pensionierung.
Schwangere Frauen und (hoffentlich) auch die Väter sind in froher Erwartung.
Im Advent warten wir auf den Einen, der uns nicht mit allen möglichen Gaben überschüttet, sondern mit seiner Menschenfreundlichkeit und Liebe beschenkt.
Wir warten vielleicht insgeheim auf die Wende, die unserer persönlichen Geschichte ebenso wie der Zukunft der Kirche einen neuen Horizont eröffnet. Der Advent ist eine Zeit des Wartens. Immer wieder schärft Jesus seinen Jüngern ein: Seid wachsam! Auch Paulus wird nicht müde, seine Gemeinden zur Wachsamkeit zu mahnen: „Wir wollen nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein“ (1 Thess 5,6). „Bedenke die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf“ (Röm 13,11).
Wachen erfordert zunächst: Beweglichkeit. Dass unser Körper ständiger Übung bedarf, um beweglich und fit zu bleiben, das wissen wir alle. Bevor der Fußballspieler eingewechselt wird, muss er sich warmlaufen. Auch die Beweglichkeit im geistlichen Leben braucht Training. Wer geistlich fit bleiben will, muss innerlich mobil und flexibel sein.
Manches Leben scheint - wenigstens von außen betrachtet - ganz rund, ohne Wunde, in langer Einübung aalglatt gebügelt. Aber es gibt auch die Lebenslüge, in der jemand nicht mehr sehen will, dass er über sich selbst eingeschlafen ist, dass sein Leben und Arbeiten die klaren Konturen verloren hat.
Heute, so ruft uns Paulus und mit ihm Christus selbst zu, ist der Tag, vom Schlaf aufzustehen! Und: Was für das geistliche Leben gilt, trifft auch zu auf unser pastorales Wirken. Wie oft legen wir die alten Schallplatten auf, ohne „auf die Zeichen der Zeit“ zu achten. Was vor 30 oder 40 Jahren gut war, ist im Jahr 2019 vielleicht überholt. Zukunftsfähige Pastoral ist mehr als neue Strukturen für dünnere Personaldecken zu organisieren: Wir müssen sie mit Inhalt füllen! Jesus Christus und sein Evangelium sollen neu zum Strahlen kommen.
„Pastoral innovativ“ heißt den Hunger der Menschen nach Spiritualität stillen und zugleich ernst nehmen, wo vielen der Schuh drückt. Als Beispiele nenne ich den Umgang mit Menschen, deren Biographie Brüche aufweist, die Zunahme sog. Patchwork-Familien und das schrumpfende Angebot geistlicher Zufluchts- und Kraftorte innerhalb der großen Kirchen. Dass eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen sich zu freikirchlich anmutenden Gemeinschaften hingezogen fühlt, muss uns zu denken geben: Sollte es daran liegen, dass sie bei uns nicht das finden, was sie eigentlich suchen: geistliche Nahrung, „Sprit“ fürs Leben? Wenn wir uns wirklich auf Gott einlassen, den „Freund allen Lebens“, dann bekommt unser Einsatz neuen Schwung, dann können wir „erfrischend Kirche“ sein, wie es der Prophet Jesaja verspricht: „Alle, die auf den Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft. Sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht matt, sie gehen und werden nicht müde.“ (Jes 40, 31)
Damit stehen wir vor einem weiteren Gedanken, der den Advent beschreibt: Wachen als Aufmerksamkeit. Paulus formuliert es so: „Einer trage des anderen Last.“ (Gal 6,2) Damit meint er nicht, wir könnten einander die Lasten einfach von der Schulter nehmen. Es gibt Situationen, die nur wir selbst bestehen können. Das Nadelöhr hat nicht Platz für zwei. Jeder von uns hat sein Päckchen, sein Kreuz zu tragen. Auch „gibt es“, wie Hannah Arendt sagt, „kein Recht auf Gehorsam“. Ver-antwort-ung wird von jedem einzelnen gefordert. Doch ein wacher, aufmerksamer Mensch weiß, wie er die Lasten anderer lindern kann. Er kann mittragen, in seelischer Not jemandem zur Seite stehen – im wahrsten Sinne des Wortes. Vieles können wir delegieren, eines aber nicht: den Dienst liebender Aufmerksamkeit. Wachen ist unser Dienst, Wachen über das Wohlergehen unserer Kolleginnen und Kollegen in den Abteilungen und Fachbereichen. Wer ein wenig Einblick hat in unsere Teams, in denen wir arbeiten, der weiß, was das bedeutet. Viele tragen der anderen Last mit durch eine Aufmunterung, ein verständnisvolles Wort, eine wohlwollende Korrektur, aber auch durch ihr hingehaltenes Ohr und ihr begleitendes Gebet. Aber die Aufmerksamkeit hat auch ihre dunkle Seite. Jede und jeder kann ein Lied singen von Belastung, Stress und grauer Alltagsstimmung. Wir leiden immer wieder unter mangelnder Anerkennung und Zuwendung. Am tiefsten schmerzt es, wenn unsere liebende Aufmerksamkeit nicht ernst genommen oder gar ausgenützt wird. Ein ehemaliger Mitarbeiter unseres Ordinariates, längst nicht mehr im Dienst, hat einmal ein drastisches Wort formuliert: „Wir sind hier zum Arbeiten, nicht um Freundschaft zu schließen.“ Diese Aussage macht mich bis heute betroffen: Gerade die Kirche, ein Ordinariat, muss mehr sein als eine Arbeitsgemeinschaft, eine effiziente Firma, ein funktionierender Betrieb. Unsere Dienststellen sollten Räume sein, in denen die Menschlichkeit groß geschrieben wird! Stattdessen geht es auch bei uns immer mehr um Prozessoptimierung und Gewinnorientierung. Da frage ich mich schon: Wenn Gott nach diesen Maximen gehandelt hätte, wenn er den Heilsprozess hätte optimieren wollen, warum hat er dann den Weg gewählt von der Krippe zum Kreuz? Dann hätte der ewige Gott 33 Jahre Zeit sparen können. Dann hätte er Rückschläge und Misserfolge, die Jesus von Nazareth von Anfang an am eigenen Leibe zu spüren bekam, einfach umgehen und gleich das Wunder der Auferstehung wirken können. Aber dem war nicht so …!
Unsere Kirchenwelt ist extrem hektisch und stressig geworden, vielleicht auch das Arbeitsklima im Bischöflichen Ordinariat. Es gleicht einem Betrieb, der auf Hochtouren läuft - kein Wunder, wenn wir aufgehen in Betriebsamkeit. Nicht auszudenken, wenn dabei Gott unterginge. Das möge Gott verhüten! Dennoch: Wir müssen aufpassen, dass es nicht passiert. Denn Gott ist leise, fein, meist im Hintergrund. Er drängt sich nicht auf. Er ist schnell verloren.
Noch etwas möchte ich Ihnen heute mit auf den Weg geben: Die Menschen draußen schauen genau auf uns. Sie haben ein gutes Gespür dafür, ob wir nur große Worte sprechen oder auch Taten folgen lassen. Machen wir uns nichts vor: Fassadenchristentum ist schnell entlarvt. Die Menschen fragen bei uns nach: Was ist dahinter? Was ist dahinter, wenn Ihr große Reden schwingt und hohe Ansprüche stellt? Es geht um Glaubwürdigkeit, um Authentizität. Das heißt: Wer bei der Kirche beschäftigt ist, dem muss man es anmerken. Sonst ist alles nur Fassade. Der Advent lädt uns ein, in uns zu gehen und uns selbst die Frage zu stellen: Was ist dahinter, wenn Du arbeitest, programmierst, diskutierst, telefonierst, schreibst, predigst und vieles andere mehr tust?
„Komm, Herr Jesus!“ beten wir immer wieder im Advent. Ich stelle mir vor, er käme wirklich! „Komm, o mein Heiland Jesu Christ!" – und das passierte tatsächlich. Er kommt hier in unsere Mitte, nach Augsburg, in die Basilika. Er ist da. Was dann? Sicher brächte er unser Programm ganz schön durcheinander – nicht nur die Feier heute Abend, nicht nur den Speiseplan, sondern auch die ganze Jahresplanung für 2020. Wir könnten nicht einfach so weitermachen wie zuvor. Mit unserem Weihnachten wäre es dann vorbei – denn er wäre ja da: der Advent für den Ernstfall.
Ist es uns also wirklich ernst damit, wenn wir das Kommen des Herrn erbitten? Oder sagen wir besser mit Dostojewskis Großinquisitor:
„Warum bist du denn überhaupt gekommen?
Störe uns wenigstens nicht vor der Zeit.
Geh weg und komm nicht mehr wieder …
Komm überhaupt nicht mehr wieder!
Niemals, niemals!“
Wollen
wir
, dass Jesus wiederkommt?