Auch in Drangsal auf Gott vertrauen
Lieber Pfarrer Ratzinger, lieber Hubert, liebe Mitbrüder im Priester- und Diakonenamt, liebe Schwestern und Brüder, liebe Wallfahrer, „durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes gelangen.“ (Apg 14,22b), so hörten wir gerade in der ersten Lesung. Paulus und Barnabas wussten, wovon sie sprachen: Der eine, weil er selbst im irrigen Glauben, Gott damit einen Dienst zu tun, zum erbitterten Verfolger der Anhänger Jesu geworden war, bis ihn der Sturz vom Pferd vor Damaskus buchstäblich zur Besinnung und zu einer abrupten Kehrtwende gebracht hatte; und der andere, weil er lernen musste, die Angst vor eben diesem einst feindlich gesonnenen Paulus aus christlicher Überzeugung heraus aktiv in ein vertrauensvolles brüderliches Miteinander zu verwandeln.
Das Leben schlägt viele Haken und es kann gut sein: Wovon ich heute felsenfest überzeugt bin, das kommt morgen vielleicht ins Wanken. Sicher könnte jeder von uns dazu eine Geschichte erzählen…
Wir leben heute in Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit; gar nicht so viel anders als die ersten Christen. Der Unterschied ist dennoch sehr groß, denn wir kommen im Gegensatz zu den entbehrungsgewöhnten Menschen der Antike aus Jahrzehnten des Wohlstandes und des Friedens in Europa – ein Leben, das wir bis vor wenigen Jahren für selbstverständlich hielten, ja wir hätten uns ohne Weiteres immer noch ein besseres vorstellen können! Aber angesichts der zahlreichen Krisen, die spätestens mit der Pandemie und dem Überfall Russlands auf die Ukraine uns alle betreffen, sind selbst wir Christen herausgefordert, uns neu aufzustellen.
Wenn äußere Sicherheiten bröckeln und die Angst umgeht, dann wird unser Glaube, das Bekenntnis zu Jesus, dem Christus, dem Erlöser der Welt und – noch wichtiger – dem Erlöser meines Lebens, neu angefragt. In dieser Situation können wir von den Aposteln Paulus und Barnabas lernen. Denn in ihrer tief verankerten Überzeugung, dass Jesus wirklich der Gottessohn und der erwartete Messias ist, haben sie wohl den meisten von uns etwas voraus. Sie haben sich bewusst für Christus entschieden und damit gegen die Verehrung des Kaisers, teilweise auch gegen den Schutz, den sie als Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft durch bestimmte Vereinbarungen mit den römischen Herrschern genossen. Sie setzen alles auf eine Karte, auf den Gekreuzigten und auferstandenen Herrn, und riskierten, wir wissen es, dabei ihr Leben. Das ist keine Kleinigkeit, wahrhaftig nicht! Auch heute kennen Millionen von Christinnen und Christen in aller Welt das Wechselbad der Gefühle, den Angstschweiß auf der Stirn und den Herzschlag bis zum Hals, wenn sich die Schlinge zuzieht und sie - wieder einmal – bloßgestellt, fälschlicherweise angeklagt, verhaftet, gefoltert und zum Tode verurteilt werden oder von einer Sekunde auf die nächste in eine tödliche Falle geraten. Seit ich im Januar bei meinem Besuch in Nigeria rund um die Uhr von schwer bewaffneten Soldaten bewacht wurde, kann ich im Ansatz nachfühlen, was es heißt, ständig unter einer realen Bedrohung zu stehen. Doch allein solche Gedanken zuzulassen und auszusprechen, ist unangenehm und unwillkürlich neigen wir dazu, dies zu verdrängen…
„Durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes gelangen“ – die ersten Christen wussten, dass der Preis hoch ist. Doch sie nährten nicht die Ängste in sich, sondern schauten tiefer und setzen ihre Hoffnung auf die Frohe Botschaft vom Reich Gottes, das schon angebrochen ist unter denen, die auf Christus vertrauen. Denken Sie an das Symbol des Fisches, die Kurzformel des Glaubens. Wir kennen sie alle: Jesus Christus, Sohn Gottes (ist) der Retter. Ist er auch mein Retter? Weiß ich mich so sehr geborgen in meinem Glauben, dass ich ohne ihn nicht leben kann? Oder ist der Glaube nur eine Form der Tradition, der Gewohnheit, ohne lebendige Beziehung zu unserem Herrn Jesus Christus?
Es lohnt sich, hin und wieder diese Kurzformel als Stoßgebet zu beten und sich dadurch über Raum und Zeit mit den frühen Glaubenszeugen, unseren Vätern und Müttern, zu verbinden: Jesus Christus, Sohn Gottes, Retter. Denn diese Verbindung schenkt uns die Kraft, „nüchtern und wachsam“ (1 Petr 5,8) zu bleiben, auch dann, wenn uns alarmierende Nachrichten erreichen.
Wenn wir heute zur Scheppacher Kapelle pilgern, denken wir an 80 Jahre Kriegsende. Seit es diese Wallfahrt gibt, gingen die Menschen getröstet von diesem Gnadenort heim. Denn sie hatten über den engen Horizont ihres eigenen Lebens hinaus auf den geöffneten Himmel über sich geblickt, wie Stephanus, der erste Märtyrer für Christus, der unter dem Steinhagel rief: „Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen“ (Apg 7,56).
Halten auch wir uns diesen Blick offen, schauen wir nach oben – voller Zuo-versicht, wie es dieses alte deutsche Wort so schön ausdrückt. Wir werden nicht enttäuscht werden, denn wer sollte das angstvolle Herz des Menschen besser kennen als Christus, der selbst am Ölberg betete: „Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir weg! Doch nicht mein Wille soll geschehen, sondern der deine“ (Lk 22,42)?
Wir brauchen also nicht in Weltuntergangsstimmung zu verfallen, aber auch bloße Verdrängung oder Coolness und Gleichgültigkeit sind unangebracht. Halten wir uns vielmehr an die Worte aus der Offenbarung des Johannes, die wir soeben hörten: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde (…) Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Offb 21,1.3-4).
Es ist heilsam, sich ab und zu ganz ernst zu fragen: Bertram, glaubst Du das? und weiter: Lebst Du aus diesem Glauben? oder im vertrauten Gespräch: Hubert, glaubst Du das? Wie wichtig ist es, dass wir uns gegenseitig zu diesem Glauben verhelfen, mit allen Kräften, die uns zur Verfügung stehen!
Denn das ist der einzige Sinn von Kirche, von christlicher Gemeinschaft: einander zu helfen, immer mehr in Glaube, Hoffnung und Liebe zu wachsen. Und das sage ich gerade zu Ihnen, die Sie sich als Veteranen viel mit dem Tod und dem Soldatsein auseinandergesetzt haben: das Gebot, „Du sollst nicht morden/töten“, wird im Krieg nicht einfach außer Kraft gesetzt, sondern gilt weiterhin. Es gibt jedoch nach katholischer Tradition ein legitimes Recht zur Notwehr. Deshalb gehört es zu den schwierigsten und schmerzvollsten Fragen, die sich im Letzten auch nicht befriedigend beantworten lassen, wo genau die Grenze ist, wann das Gebot vor dem Recht steht und umgekehrt.
Dass wir Menschen mit unserem begrenzten Horizont und weil wir vielerlei Motivationen zum Handeln in uns tragen, Not gedrungen schuldigwerden müssen - dies hat der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) während seiner Zeit im Widerstand und im engen Kontakt mit den Offizieren im Amt Abwehr unter Admiral Canaris sehr klar erkannt. Er schreibt in seiner Ethik:
„Weil Jesus die Schuld aller Menschen auf sich nahm, darum wird jeder verantwortlich Handelnde schuldig. Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich aus der letzten Wirklichkeit des menschlichen Daseins, löst sich aber auch aus dem erlösenden Geheimnis des sündlosen Schuldtragens Jesu Christi und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung, die über diesem Ereignis liegt. Er stellt seine persönliche Unschuld über die Verantwortung für die Menschen, (…) Dass der Sündlose, der selbstlos Liebende schuldig wird, gehört durch Jesus Christus zum Wesen verantwortlichen Handelns.“[1]
Es geht also nicht darum, dass wir die Übernahme von Verantwortung meiden, wie das heute leider oft zu beobachten ist, wo allein das Wort nur mehr selten in den Mund genommen wird, sondern darum das Vermächtnis Jesu, mit dem uns das heutige Evangelium konfrontiert, soweit es uns möglich ist, in die Tat umzusetzen: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt“ (Joh 13,34f.). Amen.
[1] Dietrich Bonhoeffer: Ethik, DBW Band 6, S. 276.
Lesungen: 5. So i. d. Osterzeit (Apg 14,21b–27; Offb 21,1–5a; Joh 13,31–33a.34–35)