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Wichtiges
Predigt von Bischof Dr. Bertram Meier anlässlich der Sportler-Wallfahrt am 10. Juli 2022 in Violau

„Dem Wettkampf nicht die Menschlichkeit opfern!“: Nächstenliebe gilt auch im Sport.

10.07.2022

Liebe Sportbegeisterte, liebe Freunde der DJK, liebe Schwestern und Brüder, was haben der barmherzige Samariter und die Läufer im Stadion, die der Apostel Paulus im Brief an die Gemeinde in Korinth als Vorbild hinstellt, gemeinsam? Sie haben ein

Ziel

vor Augen, auf das sie sich fokussieren, dem sie alles andere unterordnen bzw. dem alles nachgeordnet ist.

Die Läufer im Stadion wollen den „Siegespreis“ erringen, den nur ein Einziger bekommen kann. Alle Sinne sind darauf gerichtet, jeder Muskel ist angespannt, der Körper funktioniert – im besten Fall - wie geschmiert und der Einzelne erlebt, wie man heute sagt, einen Flow.

Vermutlich kennen Sie, die Sie heute der Einladung zur Sportler-Wallfahrt gefolgt sind, dieses Gefühl, bei welcher Sportart auch immer. Ich habe mir sagen lassen, dass es süchtig machen kann, den Flow zu erleben. Das gilt auch für andere Tätigkeiten des Menschen. Wir brauchen diese Augenblicke, wo wir ganz bei uns sind und uns gleichzeitig irgendwie schwerelos und getragen fühlen. „Lebe Deinen Sport“ heißt deshalb auch das Motto des Bayerischen Landes-Sportverbandes.

Wie steht es vor diesem Hintergrund nun mit dem namenlosen Mann aus Samaria, von dessen spontaner und geradezu nachhaltiger Hilfsaktion Jesus erzählt?

Ausgangspunkt für dieses berühmte Gleichnis war ja die Frage des Schriftgelehrten: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ – eine Frage nach dem Ziel schlechthin, nach dem, worauf unser Leben zuläuft. Vom Tod und der unausweichlichen Vergänglichkeit her betrachtet, erhält ja das Leben erst seine Einzigartigkeit.

Jesus tritt mit dem Menschen, der ihn so existentiell fragt, in ein Gespräch ein, stellt sofort eine Gegenfrage und bestätigt, was er hört. Denn die Auffor­derung, Gott aus ganzem Herzen zu lieben, gehört zu den zentralen Geboten, die ein gläubiger Jude täglich mehrfach betend meditiert (vgl. Dtn 6,5). Auch dass der Gesetzeslehrer die Einladung zu einer lebendigen Gottesbeziehung gleich unmittelbar mit der zwischenmenschlichen Seite (Lev 19,18) verknüpft, steht ganz in der jüdischen Tradition. - Aber: Gibt es darüber hinaus nichts, was dieser Rabbi aus Nazareth an Neuem zu verkünden hätte? Das wäre dann doch recht enttäuschend. Deshalb ist der Gesetzeslehrer beharrlich und fragt ganz konkret: Wer ist mein Nächster?

Die Antwort wird in eine Geschichte gepackt, die inzwischen fast 2000 Jahre alt ist, und uns doch immer wieder neu ergreift, wenn wir uns für ihre Botschaft öffnen:

Da liegt ein Verletzter im Straßengraben - einer, der offensichtlich Hilfe braucht - und zwei, die zum Gottesdienst im Tempel unterwegs sind, „sahen ihn und gingen weiter.“ Zweimal hören wir das ebenso lapidare wie verstörende: „Er sah ihn und ging weiter“. Jesus lässt keinen Zweifel daran: Hier handelt es sich um eine bewusste Entscheidung, um unterlassene Hilfe­leistung. Auch der Priester und der Levit folgen wohl einer Maxime, die sie unter allen Umständen erreichen wollen – koste es, was es wolle: Gottesdienst steht über der ersten Hilfe. Sie gehen dabei buchstäblich über Leichen.

Der Samariter ist „auf Reisen“, hat also mindestens ein konkretes Etappenziel. Wir wissen nicht, ob ihm die Gegend bekannt war oder ob er als Fremder zum ersten Mal auf dieser Route unterwegs war. Auf jeden Fall muss es für ihn wie ein Schock gewesen sein: da, wo weit und breit niemand war, auf einen Schwerverletzten zu treffen. „Er sah ihn und hatte Mitleid…“ –

Er lässt sich anrühren vom Schicksal des Fremden, weil er in ihm sich selbst erkennt. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat deshalb die Empfehlung zur Nächstenliebe so übersetzt: „Liebe Deinen Nächsten – er ist wie Du.“ Nur wenn ich im anderen mich erkenne, kann ich ihn in seiner Not, aber auch in seiner Einzigartigkeit wertschätzen. Der barmherzige Samariter lässt sich stören, er weicht von seinem Zeitplan ab, er unterbricht seinen Weg und setzt seine Reise erst fort, nachdem er die Wunden des Verletzten verbunden und ihn auf sein Reittier geladen hat. Er nimmt eine Verzögerung, ja eine Schwächung seiner eigenen Person bewusst auf sich, um eines höheren Zieles willen.

Wie sieht das im Sport aus – wenn es „ums Ganze“ geht? Im April dieses Jahr ereignete sich bei einem europäischen Radrennen ein Massensturz auf abschüssiger Fahrbahn. Weltmeister Julian Alaphilippe war gegen einen Baum geprallt und eine Böschung hinuntergestützt. Sein Landsmann Romain Bardet, selbst nicht in den Zusammenstoß verwickelt, war – wie es bei eurosport.de hieß - „sofort zu ihm geeilt und hatte damit alle eigenen Chancen als Mitfavorit des Rennens selbstlos geopfert. Er stand dem Weltmeister bei, aber bis ärztliche Hilfe kam ‚verging eine Ewigkeit‘, schilderte der sichtlich unter Schock stehende Sieger der Tour of the Alps den Reportern im Ziel. ‚Vier oder fünf Minuten‘ seien verstrichen, bis endlich ein Arzt an der Unfallstelle gewesen sei, weil durch den Massensturz anfangs die Straße blockiert war. Ihn habe die ‚schockierende Szene‘ so erschüttert, dass er das Rennen nicht beenden konnte, sondern ins Teamauto gestiegen sei, so der Vize-Weltmeister von 2018, dem damals Alaphilippe im Nationalteam mit zur Medaille verholfen hatte.“ – Eine Szenerie, die Hunderttausende am Bildschirm mitverfolgten, und hoffentlich ein Ereignis mit Vorbildcharakter! Gerade im Sport ist es wichtig, dass bei aller Konkurrenz und Kampfbereitschaft der Sportsgeist nicht verloren geht.

Profisportler erzählen in Interviews oft, wie intensiv sie sich mental auf den Wettkampf vorbereiten. Denn keiner, der nicht unbedingt gewinnen will, wird am Ende wohl auf dem Podest stehen. Doch wir alle wissen: Sportunfälle sind keine Seltenheit. Wäre es da nicht wichtig, dass sich jeder Sportprofi genauso intensiv mit der Frage beschäftigt, was er in einem solchen Fall tut? Das gilt übrigens nicht nur für internationale Ebene, das fängt schon im Kleinen an: Auch im Sport darf der Mensch nicht untergehen!

Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir Extremsituationen durchspielen müssen, um im Ernstfall geistesgegenwärtig handeln zu können. „Am Tag nach dem Drama“ – so heißt es im Internetartikel weiter – „gestand Romain Bardet, dass es noch immer schwer für ihn sei, Worte für das Erlebte zu finden – ‚die Verzweiflung in den Gesichtern und die geschundenen Körper nach dem Sturz‘. Er denke ‚an Julian und alle anderen Jungs, die schwer gezeichnet sind und wohl ihr Leben vor sich vorbeiziehen sahen‘, als es zum Massensturz kam. Der Tour-Zweite von 2016 erinnerte seine Fahrerkollegen an ihre Verantwortung, wenn sie mit hohem Risiko in folgenschwere Positionskämpfe gehen‘ – und schließt dann mit einem sehr nachdenklichen Satz, der uns wieder zu unserem Gleichnis zurückführt: „In einem kurzen Moment kann die Leidenschaft für das Rennen ins Tragische umschlagen. (…) Der Sturz ist direkt vor mir passiert, bei 80 km/h, keiner wollte bremsen."

Doch Bardet hat da nicht mitgemacht, er folgte einem inneren Impuls, der über dem Willen zum Sieg stand. Nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Professionalität bewies der Weltklassefahrer, dass er nicht bereit ist, dem Wettkampf sein Menschsein zu opfern. Er, der nicht unmittelbar der Nächste an den Stürzenden war, ist ihnen, wie es im Evangelium heißt, „zum Nächsten geworden“ – aus freier Entscheidung. „Er sah“ – da liegt ein Mensch – wie Du – und tat das einzig Richtige!