„Ist ein erfülltes Leben auch ohne Gott möglich?“
Liebe Mitbrüder im priesterlichen und diakonalen Dienst, sehr geehrte Dozierende und Angestellte der Universität, sehr geehrte Studierende und Angehörige der KHG, liebe Schwestern und Brüder! Bereits zum vierten Mal komme ich zu Ihnen in die Kirche zum Guten Hirten, um mit Ihnen des großen Heiligen aus dem Orden der Dominikaner, Thomas von Aquin (1225-1274), zu gedenken.
Bei meinem ersten Besuch 2021 sprach ich über die philosophisch wie theologisch zentrale Suche nach Wahrheit (vgl. Joh 18,38), die ein Schwerpunktthema des späteren Kirchenlehrers sein sollte. Im darauffolgenden Jahr dachte ich über das Verhältnis von Wissenschaft und Frömmigkeit nach, und schließlich, bei meinem letzten Besuch, über das Angerufensein des Menschen durch die Stimme Gottes.
Heute nun möchte ich den letztjährigen 750. Todestag des Aquinaten zum Anlass nehmen, um ein wenig über eines seiner letzten Worte nachzudenken, die er der Überlieferung nach kurz vor seinem Tode gesprochen haben soll. Solchen Abschiedsworten misst man oft ja eine größere Bedeutung zu, da sie als Ausdruck dessen betrachtet werden können, was der jeweiligen Person besonders wichtig erschien. Im Falle von Thomas von Aquin war es der, einige Jahre zuvor von ihm verfasste, Hymnus „Adoro te devote“. Ein wunderbares Gebet, dessen erste Zeilen (gemäß der poetischen Übertragung im Schott-Messbuch von 1921) lauten:
„In Demut bet’ ich dich, verborgene Gottheit, an,
die du den Schleier hier des Brotes umgetan.
Mein Herz, das ganz in dich anschauend sich versenkt,
sei ganz dir untertan, sei ganz dir hingeschenkt.
Gesicht, Gefühl, Geschmack betrügen sich in dir,
doch das Gehör verleiht den sicheren Glauben mir.
Was Gottes Sohn gesagt, das glaub’ ich hier allein,
es ist der Wahrheit Wort, und was kann wahrer sein?“
Allein der Beginn dieses von Hanns-Gregor Nissing als „poetisches Testament“[1] bezeichneten Gebets beinhaltet eine solche Fülle an theologischen Implikationen, dass man darüber ganze Seminare und Vorlesungen halten könnte. Neben der gängigen Deutung als Zeugnis einer tiefen, eucharistischen Frömmigkeit des Grafensohnes aus der italienischen Stadt Aquino möchte ich heute mit Ihnen der Frage nachgehen, inwiefern das für Thomas oberste Ziel des Menschseins, Gott „mit ganzem Herzen“ zu lieben, in unserer Zeit eigentlich noch Relevanz hat und welche Voraussetzungen es dafür gibt. Um das herausragende theologische Werk des „Doctor Angelicus“ zu würdigen, werde ich dies gemäß der scholastischen Methode tun, aber keine Angst, es wird kein ausufernder Traktat, sondern dem thomistischen Vorbild folgend, möglichst kurz und prägnant. Die Idee dazu kam mir beim Lesen der heutigen Schrifttexte. Darum möchte ich zunächst darlegen, worin Weisheit besteht und warum sie ein Schlüsselbegriff des christlichen Glaubens auch für Thomas war.
I. Weisheit als Gabe Gottes, die dem Menschen Erfüllung bringt
Eigentlich, meine ich, ist die Tageslesung aus dem Buch der Weisheit nicht sonderlich schwer zu verstehen. Die dem König Salomo in den Mund gelegten Worte wollen aufzeigen, dass wir Menschen uns im Leben stets zwischen irdischen und himmlischen Dingen frei entscheiden können. Konkret werden auf der einen Seite Macht, Reichtum und Schönheit genannt (vgl. Weish 7,8.10), auf der anderen Seite das Streben nach göttlicher Weisheit. Ausgerechnet Salomo in all seiner Pracht betont nun, dass die irdischen Dinge allesamt vergänglich und letzten Endes wertlos sind, während der Glanz, der von der Weisheit ausstrahlt, niemals erlischt (vgl. Weish 7,10). Weisheit nämlich kann mit der Erkenntnis Gottes gleichgesetzt werden, die wir uns jedoch nicht selber geben können, sondern um die wir bitten müssen. Tun wir dies, wird Gott uns mit seinem heiligen Geist erfüllen, wodurch wir schon in dieser Welt einen inneren Frieden und Glückseligkeit erfahren dürfen.
Doch wie macht man das im konkreten Alltag, könnten wir an der Stelle fragen. Thomas von Aquin zeigt uns in wenigen Worten seines Hymnus gleich mehrere Wege auf:
1. „Adoro“ – „ich bete an“. Damit beginnt das Gebet und es wird sogleich klar, was für Thomas auch persönlich das Wichtigste war: Die Anbetung Gottes, der allein die Wahrheit ist und in dem allein die Wahrheit gefunden werden kann. Dies teilend möchte ich Ihnen empfehlen, regelmäßig zum Gebet in die Kapelle der KHG oder hierher in die Pfarrkirche zum Guten Hirten zu kommen. Nehmen Sie sich jeden Tag ein paar Minuten, um in der Stille Gottes Stimme zu hören und seine Gegenwart zu suchen, denn der „Glaube kommt vom Hören“ (Röm 10,17), wie der hl. Paulus uns gelehrt hat, oder wie Thomas es in seinem Hymnus schreibt, „das Gehör verleiht den sicheren Glauben mir“.
2. Dazu passt der zweite Gedanke: „Credo quidquid dixit Dei filius“ – „Was Gottes Sohn gesagt, das glaub’ ich hier allein. Es ist der Wahrheit Wort, und was kann wahrer sein?“ Eindringlich weist Thomas darauf hin, unermüdlich die Worte Jesu zu lesen und zu glauben, denn hierin finden wir Menschen die von Gott offenbarte Wahrheit. Ich kann Sie demnach nur ermutigen, immer wieder die Bibel zur Hand zu nehmen und sich in die Botschaft Jesu zu vertiefen. „Die Schrift nicht kennen, heißt Christus nicht kennen“, lautet ein berühmter Ausspruch des hl. Hieronymus. Nicht zuletzt haben wir im heutigen Evangelium gehört, dass nur einer unser aller Lehrer sein soll: Der Gottessohn Jesus Christus (vgl. Mt 23,10).
3. Darum beten wir drittens auch nicht irgendeine abstrakte Wahrheit an, sondern die in Jesus Christus menschgewordene Gottheit, der wir in jeder Eucharistiefeier leibhaftig begegnen dürfen. Eine an sich verborgene Wahrheit, die sich unter den verwandelten Gestalten von Brot und Wein wahrhaftig verbirgt, wie Thomas schreibt.
Wer den Hymnus zu Ende liest, findet noch viele weitere Wege, die der heilige Ordensmann uns in bekenntnishafter Form hinterlassen hat, und die alle darin kulminieren, dass der Mensch dazu berufen ist, sich als Geschöpf Gottes zu erkennen, dessen größte Weisheit es ist, sich vom Schöpfer beschenken zu lassen und dadurch Glückseligkeit zu erlangen. Umso trauriger ist darum die Realität, dass der Mensch sich an vielen Stellen gegen dieses Heilsangebot entscheidet und - aus christlicher Sicht - der Versuchung erliegt, sich selbst zu erhöhen, ja an manchen Stellen gar „Gott zu spielen“ (vgl. aktuelle Debatten in der Bioethik).
II. Säkulare Haltung, wonach ein erfülltes Leben (auch) ohne Gott möglich ist
Dies führt zur Antithese bzw. dem immer stärker um sich greifenden säkularen Verständnis von Weisheit. Um die drei eben genannten Beispiele noch einmal aufzugreifen, könnte sich diese in folgender Weise darstellen:
1. Der Mensch verzichtet auf das Gebet und macht sich selbst zum letzten Referenzpunkt. In einem vor kurzem erschienenen Buch[2] geht der Theologe Jan Loffeld der Frage nach, woher eigentlich die Vorstellung kommt, wir bräuchten Gott? Die Erfahrung zeige doch, dass ein erfülltes Leben für viele auch ohne Gott möglich sei.
2. „Ich glaube nur an mich und an das, was ich sehe“. Das ist eine durchaus legitime und populäre Haltung, die viele Menschen, gerade jüngere teilen. Warum sollte ich den Worten eines Mannes folgen, der vor zweitausend Jahren gelebt hat und mir in meinem konkreten Alltag keinen praktischen Nutzen bringt?
3. Und drittens: Ein Gott in Brot und Wein - wer glaubt denn heutzutage noch an so etwas? Selbst in der katholischen Kirche gibt es viele, denen sich der Sinn der Wandlung nicht erschließt oder für die sie kaum noch Bedeutung hat. Für ein glückliches Leben braucht es das, nach Meinung vieler, jedenfalls nicht. Da werden andere Dinge als wichtiger angesehen, wie beispielsweise der Erfolg im Beruf oder eine eigene Immobilie.
3. Thomas und sein Verständnis von Weisheit
So bleibt es am Ende bei der eingangs bereits genannten Wahlfreiheit, vor der alle Menschen wie auch König Salomo und später die Zeitgenossen Jesu standen: Wie schaue ich auf das Leben, wie möchte ich leben, welche Dinge sind für mich bedeutsam und woran kann oder will ich glauben? Bis zu seinem Tod hat Thomas über diese Fragen nachgedacht und an verschiedenen Stellen Antworten gegeben, die ich Ihnen zur geistigen Betrachtung anempfehle:
1. „So viel der Mensch sich der Ergründung der Weisheit hingibt, so viel hat er schon Anteil an der wahren Glückseligkeit.“ (Inquantum homo sapientiae studio dat se, intantum verae beatitudinis iam aliquam partem habet. – S. c. G. I 2). Dies entspricht ganz der Erfahrung Salomos, der umso glücklicher im Leben wurde, je mehr er Gott um Weisheit bat.
2. „Was einzig aus Gottes Willen, jenseits alles dessen, was der Kreatur geschuldet ist, hervorgeht, das kann uns nicht kund werden, wenn es uns nicht in der Heiligen Schrift überliefert wird, durch die uns der göttliche Wille zur Kenntnis gelangt.“ (Ea enim quae ex sola Dei voluntate proveniunt supra omne debitum creaturae, nobis innotescere non possunt, nisi quatenus in Sacra Scriptura traduntur, per quam divina voluntas nobis innotescit. – S. th. III 1,3 c.)
3. Und schließlich zur Frage der Eucharistie: „Dass in diesem Sakrament der wahre Leib und das wahre Blut Christi Wirklichkeit sei - das kann weder durch die Sinne noch durch die Vernunft erfasst werden, sondern einzig durch den Glauben, der sich stützt auf die Autorität Gottes.“ (Verum corpus Christi et sanguinem esse in hoc sacramento, neque sensu neque intellectu deprehendi potest, sed sola fide, quae auctoritati divinae innititur. – S. th. III 75,1 c.)
Hierzu kann gesagt werden, dass schon Thomas wusste: Diesen Glauben kann man sich ebenso wenig selber geben wie die Weisheit, wohl aber können wir darum bitten.
Liebe Schwestern und Brüder,
ich wünsche Ihnen allen, dass Sie mit der Hilfe Gottes Weisheit erlangen, durch seinen Geist im Glauben bestärkt werden und jeden Tag etwas von der Freude und Erfüllung spüren können, die der hl. Thomas von Aquin zeit seines Lebens empfand. Und falls Sie doch einmal Zweifel haben, darf ich Sie auf die vierte Strophe des Hymnus hinweisen, die ich Ihnen zum Abschluss gerne mitgeben möchte:
„Die Wunden seh’ ich nicht, wie Thomas einst sie sah,
doch ruf’ ich: Herr, mein Gott, du bist wahrhaftig da!
O gib, dass immer mehr mein Glaub’ lebendig sei,
mach meine Hoffnung fest, mach meine Liebe treu.“
[1] Nissing, Hanns-Gregor: Denker und Dichter: Thomas von Aquin. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. München 2022.
[2] Loffeld, Jan: Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt. Das Christentum vor der religiösen Indifferenz. Freiburg im Breisgau 2024.