Jesus provoziert: Christentum braucht Entscheidung.
Da haben Sie sich für Ihr Fest ja ein anspruchsvolles Evangelium herausgesucht! Doch es trifft jedes Jahr am 6. Juni. Wir begehen den Gedenktag des hl. Norbert, des Gründers des Prämonstratenserordens – heuer fällt er mit dem Pfingstmontag zusammen. Für Norbert waren diese Worte lebensentscheidend. So stellen auch wir uns als Hörerinnen und Hörer des Wortes Gottes heute dem ernsten Anspruch Jesu zur Nachfolge. Das kann schon recht ungemütlich und fordernd werden…
„Christentum bedeutet Entscheidung.“ Mit diesem Satz begann der erst 19jährige Student der Theologie Dietrich Bonhoeffer, der später im Widerstand gegen das NS-Regime sein Leben für Christus hingibt, seine erste Predigt. Eine Aussage, die auch der hl. Norbert so hätte treffen können. Jedenfalls hat er danach gelebt.
Jesus fordert die, die ihn „begleiten“ (Lk 14,25) damals wie heute, heraus. Jesus provoziert. Er weiß, dass sich an ihm die Geister scheiden. Wer sich in unserer delikaten Zeit bewusst für das Bleiben in der Kirche, der Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu, entschieden hat, muss mit Anfragen rechnen, ja vielleicht sogar mit teils massiver Kritik. Gleichzeitig wäre es zutiefst ungerecht, alle in einen Topf zu werfen und pauschal zu verurteilen. Jeder kann nur für seine Verfehlungen, seine eigene Schuld verantwortlich gemacht werden. Sippenhaft ist unzulässig; in der Kirche darf es sie erst recht nicht geben.
Jede und jeder Einzelne von uns weiß sich angesprochen von der Frage, die Jesus an seine Begleiter richtet: „Wenn einer von Euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und berechnet die Kosten, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen?“ (Lk 14,28). Was wir in der Firmung versprechen, das muss im Laufe des Erwachsenenlebens immer wieder neu eingeholt werden. Nur so bleibt unser Glaube, bleibt die persönliche Beziehung zu Christus lebendig.
Glaube lebt von der Erinnerung und der Gemeinschaft: von der Erinnerung an Situationen, in denen ich die Nähe und Hilfe Gottes erfahren habe, in denen ich spürte, dass ich in seiner Hand geborgen bin – wie es in der Lesung aus dem Propheten Ezechiel hieß: „Ich, ich selber werde meine Schafe weiden und ich, ich selber werde sie ruhen lassen – Spruch Gottes des HERRN. Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene werde ich zurückbringen, das Verletzte werde ich verbinden, das Kranke werde ich kräftigen“ (Ez 34,15f.).
Norbert und alle, die in seine Lebensgemeinschaft, den Prämonstratenserorden, eingetreten sind, die hier in Steingaden über Jahrhunderte ihre Berufung lebten, konnten Auskunft geben über die Hoffnung, die sie erfüllt hat (vgl. 1 Petr 3,15), auch in schweren Zeiten von Krieg, Not und Zerstörung. Ich erinnere an den 30jährigen Krieg, an dessen Ende auch das altehrwürdige Welfenmünster, eine wehrhafte Kirchenburg, zusammen mit dem umgebenden Klosterdorf in Schutt und Asche gelegt wurde. Doch die Chorherren und das gläubige Volk ließen sich nicht unterkriegen, sie bauten ihre Kirche, den liturgischen Mittelpunkt ihrer Glaubensgemeinschaft, wieder auf, schöner und prächtiger als zuvor.
In großer Dankbarkeit gegenüber all jenen, die hier Arbeitskraft, theologischen Tiefsinn, reiche künstlerische Fähigkeiten und Spendenbereitschaft zur größeren Ehre Gottes einsetzten, um ein Gesamtkunstwerk von überregionaler Bedeutung zu schaffen, dürfen wir heute 875 Jahre Steingaden feiern. Ja, feiern, obwohl wir durch die noch nicht überstandene Corona-Pandemie, den akuten Krieg in der Ukraine, Inflation und Teuerung stark verunsichert sind!
„Christentum bedeutet Entscheidung“ – Entscheidung dafür, bei allem, was uns an Freud und Leid widerfährt, auf die Macht Gottes zu vertrauen. Denn am Leben und Sterben Jesu können wir ablesen: Gott bewahrt uns nicht vor Kreuz und Leid, sondern er hilft uns, es zu tragen. Davon bin ich überzeugt: „Wer glaubt, ist nie allein“ – auch nicht in den dunklen Momenten, in der persönlichen Ölbergstunde, die keinem erspart bleibt, der dem Gekreuzigten folgt.
„Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern/des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,/ so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern/ aus Deiner guten und geliebten Hand.“ Auch dies sind Worte des evangelischen Pastors Dietrich Bonhoeffer, die mit Recht zu seinen bekanntesten gehören; drücken sie doch aus, dass sein Glaube existentiell geworden war! Mag es vordergründig auch anders erscheinen: Immer sind wir „von guten Mächten wunderbar geborgen“, wie alle, die hier in den vergangenen 875 Jahren die Frohe Botschaft verkündet und gelebt haben, die hier, um meinen bischöflichen Wahlspruch zu zitieren, „Stimme des Wortes“ und „Schale der Gnade“ waren – und es sind: bis heute.
Seit fast 2000 Jahren gilt das ernste Wort Jesu: „Wer nicht sein Kreuz trägt und hinter mir hergeht, der kann nicht mein Jünger, meine Jüngerin sein“ (Lk 14,27). Doch sind wir Menschen oft versucht, ein Christentum light zu kreieren, die Botschaft Jesu zu verwässern, anzureichern mit fremden Geschmackstoffen, damit sie sich besser schlucken lässt.
Es ist noch keine 100 Jahre her, da glaubte man, das Jüdischsein Jesu, ja den jüdischen Ursprung der Bibel überhaupt herausdestillieren zu müssen, um ein angeblich reines Christentum zu erhalten. Auch heute gibt es Tendenzen, die eine Wohlfühlreligion favorisieren, eine Religionsharmonie als Essenz aus möglichst vielen Religionen und spirituellen Richtungen. Auch wenn die Bemühungen im Einzelnen ehrenwert sein mögen, ich halte dies für eine Versuchung, die nicht zu mehr Frieden führt, sondern erst recht polarisiert. Menschen, die sich ihre Religion selbst zusammenzimmern, bauen an einem Götzen. Das lesen wir in vielfacher Variation schon in der Hl. Schrift.
Tatsächlich aber gibt es einen Schlüssel zu den Herzen aller Menschen, eine gemeinsame ethische Basis, die sog. Goldene Regel: „Was Du von anderen erwartest, das tu auch ihnen“ (vgl. Mt 7,12). Wie es sofort einleuchtet, so schwer ist es, diese Worte in die Tat umzusetzen! Denn ich muss in Vorleistung gehen, ohne zu wissen, ob der oder die andere nach derselben Lebensregel handeln wird.
Und weil dies äußerst riskant ist, brauchen wir Menschen, von denen wir bereits erfahren haben, dass wir ihnen trauen können, dass sie uns gut sind. Mit einem Wort: Wir brauchen Gemeinschaft – in der Familie, unter Freunden, aber eben auch in der Weggemeinschaft, in der wir als Glaubende unterwegs sind. Nichts Anderes meint Synodalität. Im Evangelium taucht der Begriff Synodía – Pilgergruppe, Weggemeinschaft – ein einziges Mal auf, nämlich als von dem zwölfjährigen Jesus berichtet wird, der alljährlich mit seinen Eltern zum Paschafest nach Jerusalem hinaufzieht (Lk 2,44).
Seit Dezember 2019 gehen wir Katholiken in Deutschland den sog. „Synodalen Weg“. Papst Franziskus bettete dieses Format im Herbst 2021 in einen weltweiten Synodalen Prozess ein, den er unter die drei Begriffe „Gemeinschaft, Teilhabe, Sendung“ stellte. Bis Anfang April dieses Jahres waren Einzelne, Gruppen, Verbände und Gemeinschaften in unserem Bistum eingeladen, sich Gedanken zu machen, was Kirche sein heute ausmacht. Jetzt werden diese Impulse auf nationaler Ebene gesammelt, um dann als Vorlage für die Bischofssynode im Herbst 2023 zu dienen.
Ich vertraue fest darauf, dass da, wo sich Christinnen und Christen gemeinsam ausrichten auf das, was unseren Glauben ausmacht, und im täglichen Umgang miteinander bezeugen, was wir eben im Römerbrief hörten: „Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten. Seid einander in geschwisterlicher Liebe zugetan, übertrefft Euch in gegenseitiger Achtung“ (Röm 12,9f), dass da der Heilige Geist, dessen Herabkunft wir gestern gefeiert haben und der uns allen seit der Firmung als Lebensbegleiter zur Seite steht, den Weg zu einer geistlichen Erneuerung der Kirche weist. Amen.