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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram bei der Festmesse zu 50 Jahre Theresienwerk in der Basilika St. Ulrich und Afra

Keine großen geistlichen Expeditionen, sondern der „kleine Weg“ genügt

28.05.2022

Liebe Mitglieder des Theresienwerks, liebe Schwestern und Brüder, einer der schönsten Texte der hl. Thérèse von Lisieux (1873-1897) ist das Gedicht Nr. 17 („Vivre d‘amour - Aus Liebe leben“). Sie hat es im Februar 1895 verfasst und kurz vor ihrem Tod noch um eine Strophe ergänzt. Es war just in dem Jahr, in dem sich die junge Frau aus der Normandie in einem Akt der Hingabe ganz der barmherzigen Liebe Gottes weihte.

In den Gedanken dieses Gedichts, die ihr bezeichnender Weise während des 40-stündigen Gebetes vor dem ausgesetzten Allerheiligsten kamen, beschreibt sie, was ihr Leben im Wesentlichen geprägt hat: Die tiefe Freude über das Heilswerk Gottes in ihrer Seele, den „kleinen Weg“ der Liebe und geistlichen Kindschaft sowie die unverbrüchliche Hoffnung auf ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott auch über den Tod hinaus. Ihre Schwester Céline wird in diesem Text später den Höhepunkt aller Dichtungen der „kleinen Thérèse“ erkennen. Aus Anlass des 50jährigen Bestehens des Theresienwerks, dessen Ziel es stets war, die Spiritualität und Lehre der karmelitischen Ordensfrau weiterzutragen, möchte ich mir dieses Anliegen heute zu eigen machen. Ausgehend vom Gedicht Nr. 17 zeichne ich einige Linien der großen Kirchenlehrerin nach, die uns angesichts der Unsicherheit und Verwirrung dieser Zeit viel zu sagen hat.

Von Freude erfüllt

Schon in der ersten Strophe sehe ich eine Art Kompendium des christlichen Glaubens, wenn die hl. Thérèse mit Bezug auf das Johannesevangelium schreibt, dass jeder, der Jesus kennen und lieben lernt, seine Worte bewahrt und ihm sein Herz öffnet, nach dem Willen Gottes von unendlicher Freude erfüllt wird. Es ist jene Freude, die Thérèse trotz innerer und äußerer Prüfungen glücklich machte, so dass sie oft Heiterkeit verbreiten konnte; ihr Lächeln wurde geradezu sprichwörtlich. Obwohl sie selbst viel Leid erfahren musste - sei es beim frühen Tod ihrer Mutter, den Schlaganfällen des Vaters oder den schweren Krankheiten, die sie selbst jahrelang zu ertragen hatte - konnte sie sich diese innere Freude bewahren. Sie erkannte, dass solche Prüfungen zum Weg eines Glaubenden gehören und überließ sich ganz der Führung Gottes. Leben bedeutete für sie nicht, „sein Zelt auf dem Gipfel des Tabor auf[zu]schlagen“, wie sie in Strophe 4 des Gedichts schreibt, sondern „mit Jesus Kalvaria [zu] besteigen“ und „das Kreuz als einen Schatz an[zu]sehen“. Auch wenn das vielleicht wie aus der Zeit gefallen scheint, für die hl. Thérèse bedeutete es einen tiefen inneren Frieden, die Herausforderungen dieser Welt und die eigene Unvollkommenheit bedingungslos anzunehmen und auf nichts Anderes zählen zu können als auf Gottes Liebe. Einer Novizin im Karmel, für deren Ausbildung sie zuständig war, schrieb sie einmal einen Gedanken, der dies gut zum Ausdruck bringt und der auch mir immer wieder Kraft gibt, wenn ich die Gottesfrage stelle: „Haben Sie keine Angst, Gott zu sagen, dass Sie ihn lieben, selbst wenn Sie es nicht fühlen.“[1] Er wird Sie „tragen, wie ein Kind, das zu schwach ist, um gehen zu können.“[2] Darin liegt das Geheimnis der Freude, von dem die hl. Thérèse erfüllt war, dass Gott eins wird mit all denen, die an sein Wort glauben, wie wir es im Evangelium (vgl. Joh 17,26) hörten. Davon wollte sie künden, auch über die Landesgrenzen hinweg. Durchdrungen vom Wunsch, Missionarin zu werden, träumte sie davon, die Frohe Botschaft Jesu Christi in allen fünf Erdteilen zu verbreiten, um möglichst viele Seelen zu retten. Doch es kam ganz anders. Ihre Mission bestand nicht darin, ferne Länder zu bereisen, sondern stattdessen den Menschen ihren „Kleinen Weg“ an die Hand zu geben und damit allen Suchenden und Gläubigen eine Perspektive aufzutun, wie ein Leben in der Nachfolge Jesu vollkommen von Gott verwandelt werden kann. Es ist ein „Leben aus Liebe“, wie es im Gedicht Nr. 17 heißt, und ein Weg nicht der großen Taten, sondern des Vertrauens und der Hingabe an Gott, ohne dabei weltabgewandt zu sein. Wie das auch konkret im Alltag gelebt werden kann, beschreibt sie in den Strophen 5-12.

Leben aus Liebe

Ein Leben aus Liebe, liest man da, heißt anderen zu geben, ohne Lohn zu beanspruchen (vgl. Str. 5), Friede und Freude in alle Herzen zu säen (vgl. Str. 8), und nicht zuletzt für die Kirche, besonders für die Priester zu beten (vgl. Str. 10). Ähnlich dem hl. Franz von Assisi, den sie vor allem aufgrund seiner Demut verehrte, war es für die hl. Thérèse Berufung und Geschenk zugleich, anderen zu Diensten zu sein – und dabei den Spuren Jesu folgend. Viele Leute wären wohl freigebig und mildtätig, solange sie nicht selbst auf den letzten Plätzen sitzen müssten. Radikale Nächstenliebe aber heißt, die „Karriere nach unten“ wagen: ganz schön anstrengend, wie ihre Berichte vom Zusammenleben der Schwestern in der strengen Klausur des Karmel betätigen. Offen und teils durchaus amüsant, erzählt die hl. Thérèse in ihrer „Geschichte einer Seele“ von mancher Querele mit ihren Mitschwestern.[3] Doch konnte sie ihrem Naturell gemäß auch das mit der nötigen Prise Humor nehmen und am Ende die Erkenntnis gewinnen, dass Menschen nicht selten dieselben Macken haben, die sie bei anderen so stören. Auch das heißt Leben aus Liebe: sich die eigenen Fehler bewusstmachen und entsprechend die Grenzen der anderen bejahen. Umgekehrt sind es die kleinsten aus Liebe vollbrachten Handlungen, die uns näher zu Jesus bringen: ein freundlicher Blick, ein ermutigendes Wort, eine helfende Hand. Dadurch entsteht Gemeinschaft und Verbundenheit. Wenn wir Gott in den kleinen Dingen erfreuen, wird er uns auch in den großen nicht enttäuschen. Davon war die hl. Thérèse überzeugt. Das galt auch für die Sorge und Hilfe für zwei Missionare, die ihr eines Tages von der Priorin übertragen wurde. Mit Gebet und den Einsichten des „kleinen Weges“ begleitete und unterstützte sie die beiden jungen Männer - wohl ein wichtiger Grund, warum sich noch heute viele Priester und Missionare in ihrer Berufung der hl. Thérèse anvertrauen. Schnell verbreitete sich ihre Spiritualität auf der ganzen Welt, so dass sie mit Recht im Jahre 1927 zur Patronin der Weltmission ernannt wurde, auch wenn sie nie ihre Klosterzelle verlassen hat. Ein wichtiger Grundsatz für jede Mission ist sicherlich die erste Etappe des „kleinen Weges“, wo es darauf ankommt, nie den Mut zu verlieren. Das Beispiel des hl. Stephanus, von dem wir heute in der ersten Lesung hörten, zeigt das eindrücklich. Nur der Mut und das bedingungslose Vertrauen in die Barmherzigkeit Gottes ließen ihn sein Martyrium bestehen. Noch im Sterben betete er für seine Henker. Es wurde wahr, was Jesus seinen Jüngern im Vorfeld angekündigt hatte (vgl. Mt 10,16ff), das Bekenntnis zum Sohn Gottes wird heftigen Widerspruch auslösen und kann in Teilen der Welt noch heute lebensgefährlich sein. Das führt uns zum dritten und letzten Gedanken, den die hl. Thérèse in ihrem Gedicht Nr. 17 in den Strophen Str. 13-15 aufgriff: Das Sterben aus Liebe und die Hoffnung auch über den Tod hinaus.

Sterben in Hoffnung

Am Morgen des Karfreitags 1896 spuckt Thérèse Blut - Vorbote einer Tuberkulosekrankheit, die zum Tod führen wird. Zunächst sah Thérèse darin einen Ruf Jesu und freute sich, bald zu ihm gelangen zu können. Doch als die Schmerzen größer wurden und die Kräfte zu schwinden begannen, wuchs auch in der Frau mit dem herzerwärmenden Lächeln das Gefühl von Schwermut. Die innere Freude, die sie ausstrahlte, wurde in schwerer Krankheit auf die Probe gestellt: Wie der Herr am Kreuz seine Verlassenheit herausschrie (vgl. Mt 27,46), gestand auch sie in einem ihrer Schriftzeugnisse, sie wisse gar nicht mehr, was Freude ist. Doch gab es etwas, was in den Momenten der geistigen Finsternis ihr Herz erfüllte: Die Hoffnung. Die hl. Thérèse ahnte, dass ihr begonnenes Werk auch über den Tod hinaus Früchte tragen sollte. All die Liebe, die sie selbst empfangen durfte und an andere weitergab, wird auch später die Menschen erfüllen und zu Gott führen. Fast schon verwegen sagte sie in einem ihrer letzten Gespräche: „Ich denke an all das Gute, das ich nach meinem Tod tun möchte.“[4] Am 30. September 1897 starb Thérèse von Lisieux nach mühevollem Todeskampf. Ihre letzten Worte waren: „Mein Gott, ich liebe dich!“

Wenn wir uns heute um den Reliquienschrein dieser tapferen Frau scharen, trägt uns die Hoffnung, dass mit ihrem Sterben ihr innigster Wunsch wahr wurde, der am Ende des Gedichts Nr. 17 aufscheint: Für immer vereint zu sein mit dem Herrn, sein Antlitz schauen, und zugleich die Gnade erlangen, vom Himmel aus den Menschen auf ihrem Lebensweg zur Seite zu stehen und sie zu einem Leben aus Liebe zu führen (vgl. Str. 15).

Als Bischof von Augsburg bin ich dankbar, dass das Theresienwerk seit nunmehr fünfzig Jahren einen „Stammplatz“ in unserer Diözese hat. Als kirchlicher Verein setzen sich seine Mitglieder dafür ein, die Spiritualität der hl. Thérèse und ihrer hl. Eltern, Zélie und Louis Martin, den Menschen von heute nahe zu bringen. Mögen künftig noch mehr Gläubige an den geistlichen Angeboten des Vereins wie den jährlichen Lisieuxwallfahrten oder den Exerzitien teilnehmen. Mögen weltweit noch viele Missionare und Priesterstudenten vom Werk unterstützt und auf ihrem Glaubensweg gestärkt werden. Und mögen wir alle – jeder und jede! – einen wenn auch noch so kleinen Schritt vom „kleinen Weg“ der hl. Thérèse gehen! Es müssen keine großen geistlichen Expeditionen oder riskante kirchliche Experimente sein: Der „kleine Weg“ genügt, um in den Himmel zu kommen. Diese Hilfe wird uns gerade heute neu angeboten.

Am Ende unserer Betrachtung will ich noch einer anderen Therese das Wort geben, Edith Stein; sie hat das Wirken ihrer Mitschwester in einem Brief an eine Freundin so beschrieben: „Mein Eindruck war […], dass hier ein Menschenleben einzig allein von der Gottesliebe bis ins Letzte durchgeformt ist. Etwas Größeres kenne ich nicht, und davon möchte ich so viel wie möglich in mein Leben hineinnehmen und in das aller, die mir nahe stehen.“[5]

[1] Herbstrith, Waltraud (Hg.): Wege in neue Weiten. Vier Wochen mit…Therese von Lisieux, München 2008, 41.

[2] Ebd., 41.

[3] Vgl. Therese von Lisieux: Geschichte einer Seele, hg. von Andreas Wollbold, Freiburg im Breisgau 2016, 358.

[4] Herbstrith, Waltraud (Hg.): Wege in neue Weiten. Vier Wochen mit…Therese von Lisieux, München 2008, 60.

[5] Brief an Adelgundis Jaegerschmidt OSB vom 17. März 1933.