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Wichtiges
Predigt zur 150-Jahrfeier der Kirchweihe von St. Johann Baptist in Bad Hindelang am 2. Oktober 2022

Wie der See, so auch die Seele

02.10.2022

Lieber Herr Pfarrer Finkel, lieber Martin, liebe Seelsorgerinnen und Seelsorger im Pastoralteam, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, „Schäme Dich nicht des Zeugnisses für unseren Herrn und auch nicht meiner, seines Gefangenen, sondern leide mit mir für das Evangelium!“ (2 Tim 1,8) haben wir soeben in der Lesung im 2. Timotheusbrief gehört. Was für ein unzeitgemäßes Wort, und doch ist es hochaktuell!

Denn es scheint direkt in die momentane kirchliche Situation gesprochen: Wen von uns beschlich in den letzten Jahren, spätestens seit der Aufdeckung der zahlreichen, auch systemisch bedingten Fälle von sexualisierter Gewalt nicht ein Gefühl der Scham, des Fremdschämens angesichts solcher Verbrechen, die ein Verrat am Evangelium sind? Doch es wäre ein Kurzschluss, das Kind mit dem Bade auszuschütten und als Reaktion darauf dem Evangelium, dem menschgewordenen Wort, unserem Herrn Jesus Christus selbst den Rücken zu kehren.

Timotheus wird von Paulus daher stellvertretend für uns alle ermutigt und auf die Gnade Gottes verwiesen: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2 Tim 1,7). Alle drei spirituellen Gaben sind wichtig: die Kraft, weil sie die Grundlage für Zivilcourage ist, das Einstehen im Alltag für das Gute und Richtige; die Liebe, weil sie unser Herz empfänglich macht für die Not, die oft hinter dem vordergründig spöttischen, abschätzigen Verhalten der Kritiker steht und die Besonnenheit, weil sie uns befähigt, nicht gleich „in die Luft zu gehen“ und mit gleicher Münze heimzuzahlen, wenn wir uns angegriffen fühlen. Es lohnt sich, um diese drei Gaben des Geistes zu beten – auch deshalb, weil wir dann in diesen aufgeregten Zeiten besser unterscheiden lernen zwischen den Situationen, wo es gilt, als Christin und Christ Farbe zu bekennen, und jenen, wo, wie der Apostel sagt, stilles Erleiden angeraten ist, weil jedes Wort nur Wasser auf den Mühlen der Skeptiker wäre und ein fruchtloser Streit entstünde.

In uns allen lebt die Sehnsucht nach einem glücklichen, erfüllten Leben. Der Landsberger Geigenbauer Martin Schleske bringt es auf den Punkt: „Die ganze Schule des Lebens besteht darin, unsere Angst zu überwinden. (…) Die verängstigte, verletzte und gedemütigte Seele sucht Heilung, und sie weiß, dass sie nur im Raum des Vertrauens heil werden kann.“[1] Wofür manche Menschen heute viel Geld ausgeben, das lehrt die Botschaft Jesu, die Bibel ganz unspektakulär und ohne, dass wir tief in die Tasche greifen müssen.

Schleske erzählt dazu folgende kurze Geschichte: „Ein Mensch kam nach einer langen Wanderung an einen einsamen Gebirgssee. Die Oberfläche des Sees war spiegelglatt und reflektierte auf eine vollkommene und ungestörte Weise den Himmel. Dass der See so ruhig war, hatte einen einzigen Grund: Er wurde nicht gestört. Es war niemand da, der ihn aufgewühlt und darin herumgerührt hätte. Das ist der Grund der Gelassenheit: Der See wurde in Ruhe gelassen (…)“ - und er überträgt dies auf die Seele: „Wie der See, so kann auch die Seele nicht ruhig gemacht werden. Sie wird ruhig, weil sie gelassen wird. Wir wühlen sie nicht auf: Wir reden ihr nicht ständig ein, wie die Welt und unser Leben zu sein hätten.“[2] Ist es nicht das, wonach wir uns alle sehnen - seit dem Ausbruch der Covid 19-Pandemie und erst recht seit dem Krieg, den Russland in der Ukraine führt?

Ich lade Sie ein, öfter einmal das Wort des Psalmisten (Ps 131,2) als Stoßgebet zu beten „Herr, lass meine Seele ruhig werden und still, wie ein kleines Kind bei der Mutter.“ Das ist keine Aufforderung dazu, die Eigenverantwortung aufzugeben, sondern ein Angebot zur Selbstbesinnung, zur Einkehr bei sich selbst - in einer lauten und manchmal kopflos gewordenen Welt, in der unser Glaube allzu oft angefochten ist und wir manchmal die Orientierung verlieren, weil wir uns mitreißen lassen, von dem, was „man“ tut, was den Applaus der Menge findet. Nicht selten merken wir zu spät, dass wir uns dazu hergeben haben, mit den Wölfen zu heulen statt gegen den Strom zu schwimmen. Das erleben auch die Apostel im Evangelium; deshalb bitten sie Jesus freimütig: „Stärke unseren Glauben!“ (Lk 17,5). Denn wenn wir glauben, setzen wir unser Vertrauen auf die Nähe, den Beistand Gottes.

Gleichzeitig bedeutet Glauben immer ein Wagnis, einen Sprung ins Ungewisse. Manchmal so sehr, dass alles ins Schwanken gerät und uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird - wie das ein anderer Gefangener, nun im 20. Jahrhundert, Pastor Dietrich Bonhoeffer erlebt hat. Er schreibt an seinen Freund: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind (…). Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“[3]

Ein solcher Glauben versetzt Berge, doch nicht so, wie wir uns das oft ausmalen, als ein Wunder, das vor aller Augen passiert. Nein, denn vordergründig – aus der Sicht seiner Gegner - ist Bonhoeffer, der kurz vor Kriegsende gehängt wurde, genauso gescheitert wie Jesus von Nazareth. Wer glaubt und vertraut, sieht aber tiefer; er sieht über den Horizont dieser Welt hinaus und öffnet sein Herz, wie es Paulus dem jungen Timotheus empfiehlt: „Als Vorbild gesunder Worte halte fest, was Du von mir gehört hast in Glaube und Liebe in Christus Jesus! Bewahre das Dir anvertraute kostbare Gut durch die Kraft des Heiligen Geistes, der in uns wohnt!“ (2 Tim 1,13f)

Wir feiern heute die 150. Wiederkehr der Kirchweihe dieses neugotischen Gotteshauses: ein ambitionierter, lichtdurchfluteter Bau nach der Mode der Zeit, die sich an den aufstrebenden Kirchenbauten des Mittelalters orientierte und doch den spirituellen Bedürfnissen, der Frömmigkeit der Zeitgenossen Rechnung trug. So findet sich hier neben Aposteln, Bistumsheiligen und Namenspatronen von Stifterfamilien seit 1869 auch eine Darstellung der Marienerscheinung von La Salette, keine 25 Jahre nach dem Ereignis in den französischen Alpen. Wenn ich diese Figurengruppe so betrachte, denke ich mir, dass es nicht nur der Symmetrie geschuldet ist, warum man die Jungfrau Maria mit den Seherkindern auf gleicher Höhe wie die gegenüberliegende Kanzel angebracht hat. Mir scheint, dies beinhaltet speziell eine Botschaft für den Prediger: Er soll gleich den hörenden Kindern nur weitergeben, was er selbst empfangen hat.

Damit haben uns unsere Vorfahren, derer wir heute gedenken, ein Vermächtnis hinterlassen, das es zu beherzigen gilt: Der Glaube kommt vom Hören auf Gottes Wort, vom Schauen auf die Muttergottes und das Beispiel ihres Lebens. Sie hat sich in Gott festgemacht und verankert, sie hat ihm rückhaltlos vertraut und, obwohl ihr der Kreuzweg nicht erspart blieb, wurde sie nicht irre in ihrem Vertrauen auf den lebendigen Gott und im Glauben an ihren Sohn Jesus Christus. Nehmen wir uns ein Beispiel an ihr – jetzt im Rosenkranzmonat und in der kommenden Winterzeit. Amen.

[1] Martin Schleske, Herztöne. Das kleine Buch. Adeo: Asslar 2018, S. 58.

[2] Ebd., S. 59f.

[3] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, hrsg. von E. Bethge, München 1951, S. 18f.