„Wir sind Gott und einander heilig.“
In diesen Tagen feiert Schwabmünchen 75 Jahre Kirchweih der Stadtpfarrkirche St. Michael. Ortskundige wissen, dass die Geschichte des Sakralbaues an dieser Stelle weit zurückreicht und Reste aus einem spätromanischen Bau bis ins 13. Jahrhundert datiert werden können.
Als der Vorgängerbau der Pfarrkirche im Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig zerstört wurde, war es auch den Bürgerinnen und Bürgern ein Anliegen, diesen Neubau zu errichten, neben dem Wiederaufbau von Wohnungen und Schulen. So ist diese Kirche auch ein Zeichen dafür, dass Krieg und Zerstörung nicht das letzte Wort behalten dürfen, ein Zeichen selbst für alle, die unsere Kirchen nur von außen wahrnehmen.
Am heutigen Abend wird unser Blick auf das gelenkt, was unsere Kirchen im Inneren ausmacht. Unser Blick darf auf dem verweilen, der uns als Kirche, als erneuertes Volk Gottes, zusammenruft: Jesus Christus. Und Kirche soll ein Raum sein, der Gottesbegegnung ermöglicht. Gott selbst ist es, der dem Kirchenbau Leben einhaucht: Gott im Zentrum der Stadt, Gott mitten im Leben. Heute Abend ist Gelegenheit, die Gegenwart Jesu Christi in Gestalt der Eucharistie bewusst wahrzunehmen und auf sich wirken zu lassen, in der Anbetung des Allerheiligsten. Wie wirkt sich die Anbetung Gottes auf unser Leben aus? An Hand der biblischen Texte des heutigen Tages möchte ich in drei Punkten darauf eingehen.
1. Zur Gottesliebe gehört die Nächstenliebe
Die Lesungen machen deutlich, dass die Wirkung, die die Anbetung hat, nicht nur Ehrfurcht vor Gott beinhaltet, sondern dass sich die Verehrung Gottes in der Liebe zum Nächsten erweisen muss. In der ersten Lesung werden wir mitten hineingeworfen in die Unterweisung, die Mose dem Volk Israel erteilt. Er ruft die Gesetze des Bundes in Erinnerung. Die Zusammengehörigkeit von Gottes- und Nächstenliebe durchzieht das Buch Deuteronomium.
In diesem Buch findet sich auch das Schma Israel, das als Jüdisches Glaubensbekenntnis bezeichnet wird und im heutigen Text durchklingt. Das Schma Israel lautet: „Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dtn 6,4.5) Jesus greift diese Formel auf und erweitert sie durch das Gebot der Nächstenliebe und der Liebe zu sich selbst (vgl. Mt 22,37‑40; Mk 12,29-31; Lk 10,27). Das ist keine Erfindung Jesu, sondern die wortgetreue Tradition seines Volkes (vgl. Lev 19,18).
Ehrfurcht vor Gott wird fortgeführt in der menschlichen Gemeinschaft: in der Bewahrung der Würde des Anderen, in der tätigen Nächstenliebe, in der Versöhnungsbereitschaft. Gottes Ruf ist anspruchsvoll. Das Gebot der Nächstenliebe gipfelt in der Feindesliebe, die Jesus im heutigen Evangelium fordert. Und er schließt mit den Worten: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,48). Wer kann vor solch einem Anspruch bestehen?
2. Die Heiligkeit des Volkes
Das Volk Israel gilt als das auserwählte Volk Gottes, als heiliges Volk, aber hat es sich auch so verhalten? Folgen wir der Lesung, so bedeutet die Annahme des Bundes, den Gott seinem Volk anbietet, das Einhalten seiner Gesetze. Und davon gab es im Alten Israel Viele. Uns Christen sind die Zehn Gebote bekannt – auch die bilden das Zusammenspiel von Gottes- und Nächstenliebe ab. Wer im Buch Deuteronomium blättert, wird darüber hinaus zahlreiche Regelungen finden – Regelungen, die beispielweise den Umgang mit Witwen, Armen und Flüchtlingen betreffen oder klären, wie im Fall von Scheidungen zu verfahren ist. Der Themenkomplex dieser mehr als 2000 Jahre alten Schrift dürfte uns nur allzu vertraut sein. Auch wenn die damaligen Lösungen nicht einfach ins Heute übertragbar sind, illustrieren sie uns, dass das Zusammenleben als auserwähltes Volk Gottes auch damals schon alles andere als einfach war. Gesetze werden mitunter dann erlassen, wenn ein Streitfall der Klärung bedarf. Viele Gesetze heißt daher viel Konfliktpotential.
Wie passt das zur Heiligkeit des Volkes? Im letzten Vers der heutigen Lesung ist ausgesagt, dass Israel „ein Volk werden möchte, das ihm, dem HERRN, heilig ist“ (Dtn 26,19). Israel ist Gott heilig, es liegt ihm am Herzen. Die Heiligkeit des Volkes Israel geht von Gott aus. Die Kirche, das Volk des Neuen Bundes ist heilig, weil in ihr der Heilige selbst lebt und wirkt. Wir sind Gott heilig, so sollten wir uns auch gegenseitig heilig sein.
Gerade der hohe ethische Anspruch, der im Aufruf Jesu zur Feindesliebe steckt, wirft uns gewissermaßen zurück auf Gott selbst. „Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist“ – so lautet ein viel zitiertes Wort des Dichters Johann Wolfgang von Goethe. Wenn Goethe Recht behält, dann dürfen wir hoffen, dass etwas von der Vollkommenheit und Heiligkeit auf uns übergeht, gleichsam abfärbt, wenn wir mit Gott Zeit verbringen, ihn anbeten. Der Gedanke der Wandlung betrifft nicht nur Brot und Wein, sondern auch uns, die wir die Eucharistie empfangen. Den Alten Adam ablegen und Christus anziehen – so lautet das christliche Lebensmotto seit der Taufe. Aber die Erfahrung lehrt uns, dass diese Wandlung nicht mit einem frommen Wunsch oder einem Fingerschnips zu erledigen ist: es ist ein lebenslanges Einüben. Gott hat Geduld – auch das lernen wir aus der Geschichte des Volkes Israel.
3. Das Angebot Gottes gilt heute
Steigen wir noch tiefer ins Buch Deuteronomium ein! Der Text der Lesung formuliert zunächst einen Ruf, der von Gott ausgeht: „Heute, an diesem Tag, verpflichtet dich der HERR, dein Gott, diese Gesetze … zu halten.“ (Dtn 26,16). In den darauffolgenden Versen heißt es: „Heute hast du der Erklärung des Herrn zugestimmt.“ „Und der Herr hat heute deiner Erklärung zugestimmt.“ (Dtn 26,17.18) Das mag den Anschein erwecken, dass Israel diesem Ruf Gottes unmittelbar zugestimmt hat. Doch wer die Geschichte des auserwählten Volkes kennt, weiß, dass diese Antwort auf sich warten ließ. Der Bund mit Gott wurde durch das Volk immer wieder in Frage gestellt und gebrochen. Mehrmals wird die Geduld Gottes auf die Probe gestellt. Aber Israel kann sich auf den Bündnispartner verlassen. Gott ist treu. Sein Liebesangebot an sein Volk bleibt.
Liebe Schwestern und Brüder, damit komme ich zurück zum heutigen Abend in Schwabmünchen. Das Volk Israel nimmt das „Heute“ Gottes ernst. Das darf auch für uns gelten: Heute steht das Angebot Gottes, dass wir uns ihm wieder bewusst zuwenden. Einen äußeren Schritt haben Sie bereits getan, Sie sind hier. Ich möchte Ihnen Mut machen, neben der äußeren Präsenz auch einen inneren Schritt auf Gott zuzugehen. Dieser Abend heute lädt in besonderer Weise dazu ein. Für jede und jeden mag dieser Schritt etwas anders aussehen. Es kann ein Schritt der Umkehr im Sakrament der Versöhnung sein. Für manche ist es gut, einfach nur vor Jesus im Allerheiligsten zu verweilen, Sorgen abzulegen und sich trösten zu lassen. Wenn wir uns Gott zuwenden, dann kehren wir uns am Leichtesten von allem ab, was uns von Gott wegführt. Und wenn es nur ein kleiner Schritt ist, den Sie heute auf ihn zugehen, dann kann dies der Anfang sein für einen neuen Weg. Gott ist treu und barmherzig. Er kommt uns entgegen. Ich wünsche Ihnen Mut, Entschlossenheit und Segen dafür, am heutigen Abend einen entschiedenen Schritt auf Gott hin zu wagen. Amen.